In Deutschland haben wir keinen Kapitalismus. Und er ist alternativlos.

Weil ich vorhin auf Spiegel-Online über einen Artikel gestolpert bin, dem behauptet wurde, dass in Anne Wills Sendung vom 7. Mai über den Kapitalismus diskutiert worden wäre, dachte ich, mir die Sendung in der Mediathek ansehen zu müssen, weil sie möglicherweise interessant gewesen sein könnte. Überschrieben war sie mit Steuerungerechtigkeit mit System – Warum werden nur die Reichen immer reicher?

Um es abzukürzen: Muss man sich nicht ansehen. Wie zu erwarten eine schlimme Sendung, in der mit dem größten Ernst unheimlich viel Unsinn geredet wurde. Und zwar von sämtlichen Beteiligten, die da waren Katja Kipping, Steffen Kampeter, Rainer Hank, Giacomo Corneo und natürlich Anne Will. Wobei der Wirtschaftsprofessor (an der Freien Universität Berlin) Corneo einige sehr interessante Dinge gesagt hat, die nicht von der Hand zu weisen sind, etwa dass die extreme Ungleichheit im 19. Jahrhundert zu den Entwicklungen geführt habe, die in der Hälfte des 20. Jahrhunderts die bekannten Katastrophen ausgelöst hätten, wo wir in Europa doch hoffentlich nicht wieder hinwollten.

Was Marktwirtschaftsfanatiker Rainer Hank umgehend zu dem Protest verleitete, das 19. Jahrhundert sei doch eine grandiose Zeit gewesen wäre, die ein selbstbewusstes Bürgertum und ungeheuren Fortschritt für alle hervorgebracht hätte. Auf den Einwand von Corneo, dass Hank sich ja nur mal die Lebenserwartung der Fabrikarbeiter im 19. Jahrhundert ansehen müsse, zu wissen, dass die meisten Menschen nichts von dem wunderbaren Fortschritt hatten, ging Hank natürlich nicht ein, weil er da ja hätte zugeben müssen, dass die Industrielle Revolution eben nicht nur ungeheuren Fortschritt, sondern auch ungeheures Elend für den Großteil der Bevölkerung mit sich gebracht hat. Bevor die Fabriken immer mehr Menschen Arbeit gegeben haben, haben sie ganzen Bevölkerungsgruppen nämlich erstmal ihre Arbeit und damit ihren Lebensunterhalt weggenommen, was ja derzeit auch immer wieder vor kommt, wodurch sich in der Folge immer mehr Menschen unter unmenschlichen Umständen buchstäblich zu Tode geschuften müssen, damit die Kapitalisten ihren Schnitt machen können. Dass spätere Generationen von Arbeitern zumindest eine Zeitlang von ihrer Arbeit halbwegs anständig leben konnte, ist übrigens auch keine Wohltat des Kapitalismus, auch wenn Typen wie Hank nicht müde werden, diese Lügen zu wiederholen, sondern das Ergebnis von erbitterten und zum Teil sehr blutigen Arbeitskämpfen, deren Vorkämpfer von der herrschenden Klasse nicht weniger erbittert bekämpft wurden – unter den Nazis kamen Sozialisten und Kommunisten ins KZ. Aber viel besser erging es ihnen in anderen Ländern auch nicht.

Kurz was zum Hintergrund dieser eigenartigen Gesabbel-Sendung: Kapitalismus-”Kritiker” Thomas Piketty (hier ein Artikel dazu in der FAZ) hat analysiert, dass der Kapitalismus unter den derzeitigen Bedingen nicht mehr funktioniere – was Rainer Hank, so ungern ich ihm beipflichte, mit der völlig korrekten Bemerkung, dass der Kapitalismus noch nie so gut funktioniert habe wie heute, richtig stellte. Denn das Ziel des Kapitalismus ist weder die Versorgung aller Menschen, noch Demokratie, Gleichheit oder auch nur erträgliche Lebensumstände für alle, sondern die Vermehrung des Kapitals – und die funktioniert ganz hervorragend. Nur dass halt immer weniger Menschen was davon haben, der Reichtum der Besitzenden vermehrt sich immer schneller, und die anderen gehen halt leer aus. Und wenn immer mehr arme Menschen um die noch vorhandenen Arbeitsplätze konkurrieren, wird es halt immer ungemütlicher für alle, die wenig oder gar nichts haben.

Denn immerhin stimmt, was auch der Spiegel in dieser Woche auf dem Titelblatt hat: Mit Arbeit wird man heute nicht mehr reich. Im Gegenteil: Wer auf Arbeit angewiesen ist, um sein täglich Brot zu verdienen, muss immer mehr strampeln und ein immer größerer Anteil der arbeitenden Bevölkerung schafft es nicht mehr, mit einer Vollzeitbeschäftigung oder mehreren Teilzeitjobs über die Runden zu kommen. Das ist eine Konsequenz aus dem wunderbaren Funktionieren des Kapitalismus, und nicht, wie fälscherweise immer wieder behauptet wird, ein Anzeigen dafür, dass er nicht richtig funktioniere, siehe oben.

Interessant auch, dass es offenbar gar nicht so schlimm ist mit der allgemeinen Ungleichheit, denn wenn die so schlimm wäre, müsste es ja Unruhen geben oder “noch viel schlimmer, 80-Prozent-Ergebnisse für die Linkspartei”, wie Anne Will süffisant lächelnd zusammenfasste. Katja Kipping versuchte zu erklären, dass die Abgehängten heutzutage eher frustriert als wütend seien, weshalb sie keine Revolten anzetteln, sondern sich zurückziehen und sich damit auch aus der Demokratie verabschieden – immer mehr Arme gingen gar nicht mehr wählen, weil sie eh das Gefühl hätten, dass sie nichts zu sagen hätten. Wobei ich hier anmerken muss, dass das nicht nur ein Gefühl ist, und hier versagt eben auch die Linken-Politikerin: Die Leute wieder mit ein bisschen mehr Umverteilung dazu motivieren zu wollen, sich wieder als gute, engagierte Bürger aufzuführen, ist doch eigentlich mal eine Idee der CDU gewesen, als sie sich noch als Volkspartei verstanden hat. Wenn das alles ist, was die Linke zu bieten hat, ist sie nicht weniger überflüssig als die SPD.

Einen Ehrenvogel zum Abschießen verdiente sich auch Steffen Kampeter, der immer wieder erklärte, dass es in Deutschland gar keinen Kapitalismus gebe, sondern eine soziale Marktwirtschaft, weshalb Kampeter der Piketty-Kritik am Kapitalismus auch zustimmen konnte, die sei ja schon richtig, aber auf Deutschland treffe das alles gar nicht zu. Wer diese Brille auf hat, kann natürlich parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen werden. Auf die Frage, ob es denn wirklich kein Problem sei, dass die Vermögensverteilung so ungleich sei, wie in keinem anderen Euroland, sagte er doch glatt, er sehe sich keine Statistiken an, sondern die Realität. Das ist doch mal ein gekonnter Konter. Und dann kam doch wieder eine Menge Statistik, aus der Kampeter wenig überraschend schloss, dass wir in Deutschland doch wirklich etwas ganz anderes als Kapitalismus hätten. Inzwischen strömte mir so viel Blut aus dem Ohr, das ich kaum noch zuhören konnte.

Stimmen also die Daten der OSZE nicht, fragte Anne Will. Nee, doch irgendwie stimmen die schon, sagt Kampeter, aber das ist ja wieder nur Statistik und nicht die Realität. Die ist nämlich viel besser als Kapitalismus. Interessant. Nur Professor Corneo versuchte weiterhin, ernsthaft zu argumentieren. Er versuchte am Beispiel der Entwicklung der Einkommensverhältnisse in den letzten 30 Jahren in den USA zu zeigen, was für eine furchtbare Dynamik die derzeit herrschende Entwicklung dieser zunehmenden Ungleichheit hat, die hierzulande zwar derzeit noch weniger ausgeprägt, aber mittlerweile schon deutlich zu spüren sei. Bis in den 70er Jahren sei die Konzentration der Einkommen in den USA sehr gering gewesen, inzwischen sei sie sehr ausgeprägt, und das führe automatisch zu einer immer größeren Ungleichheit in der Vermögensverteilung, so dass sich Arbeit immer weniger lohne. Kampeter hakte wieder ein, dass diese Zahlen die Realität gar nicht abbilden würden, die Frage sei doch, was man sich so ein Durchschnittsverdiener überhaupt noch leisten könne, und das sei in Deutschland doch ziemlich viel. Nun ja, als Staatssekretär vielleicht. Hank sekundierte sofort, wir hätten hier in Deutschland keine problematische soziale Spaltung, und natürlich können man in Deutschland mit Arbeit richtig Geld verdienen, da müsste man ja nur mal die IG Metall oder noch besser Herrn Winterkorn fragen. Haha, der war gut.

Und dann wurde wieder festgestellt, dass Arbeit sehr viel höher besteuert wird, als Kapitalerträge. Aber Kampeter interessiert sich wieder nicht für die Statistik, sondern für die Realität – und die sei ja nicht so, wie die Zahlen nahe legen, sondern viel besser. Immerhin hakte Anne Will hier ein, und forderte von Kampeter, doch einfach mal beim genannten Beispiel zu bleiben. Dazu war Kampeter nicht in der Lage. Hier konnte dann Hank wieder punkten, der feststellte, dass der offensichtlich vorhandene Unterschied zwischen der Besteuerung von Arbeit und von Kapitalerträgen nun mal nicht wegzureden sei, auch wenn es politisch natürlich Gründe dafür gebe, es genau so zu machen. Und Kipping konnte beitragen, dass gerade die mittleren Einkommen besonders hoch belastet würden, wobei die inzwischen wegbröckelten.

Corneo bestätigte, dass in Deutschland die Arbeitseinkommen vergleichsweise hoch belastet würden, während Kapitalerträge vergleichsweise niedrig besteuert würden – und er wollte, dass ihm die beiden Jungs aus dem bürgerlichen Lager mal erklären, wie sie dafür sein könnten, dass das so bliebe, weil das dem Leistungsprinzip ja Hohn sprechen würde. Konnten die natürlich nicht, Hank grub den alten Kirchhoff und seine Flattax noch mal aus, 20 Prozent auf alles, das wäre gerecht. Nun ja. Dann kam die unvermeidliche Diskussion über die absurd hohen Gehälter der DAX-Vorstände, mit denen die Jungs aus dem bürgerlichen Lager erwartbar kein Problem haben, Kipping forderte die 1:20-Regel, die besagt, dass in Unternehmen das höchste Gehalt nicht höher liegen dürfe, als das 20fache des niedrigsten. Das gab Beifall aus dem Publikum, wobei das ja auch nichts anderes bedeutet, dass der Chef sich immerhin 100 Euro pro Stunde berechnen darf, wenn er seiner Putze 5 Euro pro Stunde zahlt. Ist ja wohl supergerecht.

Corneo stellte fest, dass es keinen Konsens darüber geben würde, was denn eigentlich Gerechtigkeit sei und führte aus, dass es ja per se jede Menge Ungerechtigkeiten gebe, die man halt durch Umverteilung ausgleichen müsse, damit es zwar am Ende nicht gerecht, aber doch wenigstens möglichst wenig ungerecht zugehen würde. Dem widersprach das Bürgerliche Lager konsequent, weil das gerechteste überhaupt ja wohl das Eigentum sei, in das diese unverbesserlichen Umverteiler immer eingreifen wollen, was total unrecht ist.

Hier kam Will immerhin auf die Idee, zu fragen, ob denn die kalte Progression kein Eingriff ins Eigentum sei, denn die enteigne ja die Steuerzahler um einen immer größeren Teil ihres Gehaltes. Kampeter argumentierte, dass die CDU die kalte Progression ja abgeschafft hätte, wenn die SPD-Ministerpräsidenten das nicht erfolgreich verhindert hätten. Wobei dass ja wieder so ein öder Nebenkriegsschauplatz ist, denn es ist ja nur eine kleine Nebenungerechtigkeit in einem Meer von anderen Ungerechtigkeiten. Jetzt kam wieder eine Menge Blablabla, bei dem einmal mehr die Mütter gegen die Kinderlosen und die Besser- gegen die Nochbesserverdiener ausgespielt wurden.

Immerhin beantwortete sich die Frage, mit der die Sendung überschrieben war, auf diese Weise von selbst: Die Reichen werden reicher, weil das politisch so gewollt ist. Aber keiner der Diskussionsteilnehmer hat das Offensichtliche einfach mal ausgesprochen. Im Gegenteil, die warben zum Schluss der Sendung für mehr direkte Bürgerbeteiligung, damit die Leute nicht mehr so frustriert sind. Ja nee is klar – ist ja auch billiger, einfach ein bisschen mehr von dem zu simulieren, was sich die Leute unter Demokratie vorstellen, als dafür zu sorgen, dass es den Leuten einfach gut geht. Hauptsache, es sagt keiner mehr was gegen den Kapitalismus, auch wenn wir ja eigentlich gar keinen haben.

Was hab ich jetzt aus der Sendung gelernt?

1. Es lohnt sich nicht, Diskussionssendungen zu kucken, wenn man konkrete Fragen beantwortet haben möchte.
2. Es lohnt sich, Diskussionssendungen zu kucken, wenn man etwas über die Lage der Nation und den Zustand der Medien erfahren will (in so ziemlich jeder Hinsicht desaströs).
3. Die Linke ist definitiv keine Alternative, selbst wenn sie eine Mehrheit bekommen würde.
4. Soziale Marktwirtschaft die die Fortsetzung des Kapitalismus mit anderen Mitteln.
5. Wenn die Leute wollen, dass sich an den herrschenden Zuständen etwas ändert, müssen sie revoltieren, und zwar ernsthaft – es ist ja mehrfach gesagt worden, dass die herrschenden Zustände für die Menschen im Lande offenbar okay gehen, weil niemand ernsthaft dagegen protestiere.
6. Obwohl es den Menschen immer schlechter geht, werden sie nicht revoltieren, weil sie sich einfach nicht vorstellen können, wie es anders sein könnte. So wie es ist, muss es sein, die bundesdeutsche Realität ist alternativlos.
7. Eine andere Gesellschaft als diese ist im deutschen Fernsehen schlicht nicht vorstellbar. (Das ist vermutlich auch eine der Erklärungen dafür, warum es keine gute Fiktion in deutschen Fernsehen gibt.)
8. Man sollte sich bald um eine sichere Alkohol-Versorgung kümmern oder auswandern. Wobei hier die Frage ist – wohin?



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