Ich sehe unser Theater als eine Art Utopie

Die neue Produktion, die die der Dschungel in Zusammenarbeit mit diverCITYLAB auf die Beine gestellt hat, trägt den Titel: „Nirgends in Friede. Antigone.“ Dabei haben Sie Regie geführt. Antigone kommt im Moment verstärkt auf die Bühnen. Hat das mit der aktuellen, politischen Situation zu tun?

Ja, schon. Antigone ist ja das Symbol des jungen, weiblichen Widerstands gegen eine ältere, männlich dominierte Gesellschaft. Sie steht zwar für junge Frauen, ich meine aber für junge Leute an und für sich. Zu dem Zeitpunkt, zu dem wir das Stück ausgesucht haben, gab es noch keinen Trump und keinen Erdogan, der gemeint hat, er müsste alle Macht an sich reißen. Aber es war schon alles in Vorbereitung und am Laufen. Aber schon im arabischen Frühling, auf den sich das Stück bezieht, waren es die Frauen, die sich als Allererste auf den Platz gestellt haben. Und auch in der Türkei waren es zuerst die Frauen, die gegen das Vergewaltigungsgesetz auf die Straße gegangen sind. Nachdem fünf von den Darstellern türkische Wurzeln haben, ist dieses Thema jetzt noch aktueller. Der Demokratiebegriff ist da vermehrt ins Spielgekommen, sei es in Europa mit der Türkei, die ja behauptet, im Gegensatz zu ihnen sei Europa so undemokratisch geworden. Da haben die jungen Leute jetzt noch einen ganz anderen Bezug dazu.

Ich sehe unser Theater als eine Art UtopieNirgends in Friede. Antigone. (c) Rainer Berson

Aber ich finde, es zeigt einfach ganz viel. Aber man hat ja auch bei Trump gesehen, wer da schlussendlich auf die Straße gegangen ist, das waren die Frauen. Für mich war es auch wichtig ein Stück zu finden, mit dem junge Menschen etwas zu sagen haben. Das war mir auch ein Anliegen, weil das diverCITYLAB eine politisch sehr motivierte Gruppe ist. Das ist eine Institution, die gesellschaftspolitisch agiert und nicht nur auf dem herkömmlichen Weg ausbildet. Uns war klar, dass wir das Stück mit seinen vielen Facetten und Erzählungen in seiner ganzen Breite gar nicht bringen können und es musste sehr, sehr, sehr viel gestrichen werden. Und ich habe dann, weil das generell ein wichtiger Anteil meiner Arbeit ist, den persönlichen Bezug – es ist ja für Jugendliche ab 16, also für junge Erwachsene – gefragt, wo ist der Bezug zu ihnen? Was ich nicht so interessant finde, ist, ihnen einen Klassiker einfach so hinzuschieben, bei dem sie mit diesem schweren Textanteil dann einfach bombardiert werden und das unterrichtsmäßig abgehandelt wird. Ich finde eher das Aufbrechen und der persönliche Zugang, sowohl von den DarstellerInnen als auch dem Publikum, die Frage – was hat das überhaupt mit uns zu tun – wichtig für Theater für junges Publikum. Das Stück hat auf jeden Fall etwas mit der eigenen Situation zu tun.

Dieser Zugang zum Theater ist ja ein Charakteristikum von Ihnen.

Ja, so ist es.

Für sie ist ja die Beschäftigung mit Theater für junges Publikum, wie es jetzt auch im Dschungel genannt wird, ihr Hauptthema.

Seit es den Dschungel gibt auf alle Fälle. Aber mein Hauptthema war ja schon immer Frauen und der Gender-Aspekt. Es ging mir z.B. bei allen Boys-Stücken, die ich gemacht habe, um einen feministischen Blick, der aber nicht nur mit Frauen, sondern mit Menschen an und für sich zu tun hat.

Stoßen Sie eigentlich bei jungen Frauen mit Migrationshintergrund, die ja oft ein anderes Frauenbild von ihrer Familie vermittelt bekommen haben, bei ihrer Arbeit auch auf Widerstände?

Eigentlich nicht. Man darf diese jungen Frauen nicht unterschätzen, die wissen, was läuft. Diese jungen Frauen sind hier aufgewachsen, die leben vielleicht in zwei verschiedenen Welten, aber die wissen ganz genau, was hier abgeht. Diesbezüglich leben sie vielleicht auch in einer gewissen Diskrepanz, zumindest was ich erlebe. Sie sind aber auch nicht auf den Mund gefallen und wissen sich auch zu verteidigen und ihre Meinung zu sagen. Und ich denke, das stärkt sie in dem Moment, wenn sie andere Bilder von jungen Frauen im Theater sehen und um das geht es mir. Und für junge Männer, die vielleicht ein bisschen ein „eigenwilliges“ Frauenbild haben, haben wir ja auch ein Stück präsentiert. Bei „Blutschwestern“ gab es tatsächlich junge Männer, egal ob migrantisch oder nicht-migrantisch, die sich in Publikumsgesprächen entschuldigt haben. Die sind aufgestanden und haben gesagt: „Das ist nicht o.k., wie wir Frauen behandeln.“ Sie sind richtig betroffen gewesen.

Ich sehe unser Theater als eine Art UtopieBlutschwestern (c) Rainer Berson

Oder es gab auch junge Männer, die gesagt haben: „Oh mein Gott, ich fühl` mich jetzt eigentlich nicht wirklich gut.“ Es ging nicht darum, dass sich Männer nicht gut fühlen, es ging auf gar keinen Fall darum, dass Männer nicht in Ordnung sind. Sondern das ist ja immer so, dass wenn man für eine Sache spricht, heißt es ja nicht automatisch, dass man gegen eine andere antritt. Das wird oft so gedeutet und dagegen verwehre ich mich immer ganz deutlich. Wenn ich für Frauen spreche, dann spreche ich eben für Frauen und nicht gegen Männer und wenn sich ein Mann dadurch angegriffen fühlt, dann hat das mit ihnen zu tun und nicht mit der Ausgangssituation, mit der sie konfrontiert werden. Es sind 16, 20, 25-jährige junge Männer, Familienväter gekommen, zum Teil an den Wochenenden, sogar ohne ihre Kinder, nur weil sie es sehen wollten. Das zeigt eher, worum es mir geht.

Ich hatte jetzt bei einer Vorstellung der Antigone, in der ich nicht drin war, offensichtlich Stimmen von jungen Männern, die während der Aufführung reingebrüllt haben: „Was ist das für eine linke Scheiße!“ Mein Produktionsassistent hatte mir gesagt, dass ihm aufgefallen sei, dass die das identitäre Zeichen angesteckt hatten. Das habe ich so noch nicht erlebt.
Vielleicht, weil das jetzt ein Stück für 16 plus ist. Es waren aber nicht Menschen mit Migrationshintergrund, die da riefen, sondern Menschen aus Gymnasien, aus einem höher gebildeten Umfeld und das finde ich interessant, wenn dann so etwas kommt. Leider war ich an dem Tag nicht da.

Sie als Theatermacherin verfolgen ja einen politischen Standpunkt.

Ja, dem kommen wir ja nicht mehr aus!

Wie gehen Sie denn abseits ihrer eigenen Produktionen vor, die einen gesellschaftspolitischen Anspruch haben. Wonach suchen Sie sich die freien Gruppen aus, die im Dschungel auftreten?

Es kommt erstens ein bisschen auf die Altersgruppe an. Wir haben ein Stück für 1 bis 3-Jährige, da geht es um ganz andere Dinge, um die ersten Worte. Aber es gibt auch im jüngeren Bereich ganz viele Möglichkeiten, gesellschaftspolitisch zu agieren. Ein ganz wesentlicher Teil dabei ist für mich: Wer steht auf der Bühne. Bevor irgendetwas erzählt wird, erzählt das schon am Allermeisten. In welcher Position sind Menschen, die weiß, von ihrer Herkunft „bio-österreichisch“ sind, wenn ich das so ausdrücke, auf der Bühne? Ich mag es überhaupt nicht, von weiß zu sprechen und habe dafür eigentlich gar keinen richtigen Begriff. Aber welche Funktion haben sie auf der Bühne, das ist die Frage. Das kann man von Null bis Hundert durchziehen. Ich sehe die Besetzung ja nie so, dass aufgrund von Haar- Hautfarbe oder schlussendlich des Geschlechtes irgendeine Rolle zugeordnet sein muss. Bei der Besetzung von Antigone stand auch nicht die Herkunft, der Akzent oder das Aussehen im Vordergrund, sondern vielmehr, ob die Rolle zur Persönlichkeit des Schauspielers oder der Schauspielerin passt, oder nicht. Im Film ist diese Art der des Type- Castings ja ganz stark. Als dunkler, arabisch-türkisch-stämmiger Typus spielt man eher dann einen Drogendealer, Flüchtling oder den Türken.

Bis wir das in dem Medium einmal besprochen haben, da geht ja noch einmal was weiß ich welche Zeit ins Land. Das hat mit dem Verismo (Realismus )zu tun, wie man eine Gesellschaft abbilden möchte. Das machen wir nicht. Ich sehe unser Theater als eine Art der Utopie. Dinge anders zu sehen, anders zu benennen, anders zuzuordnen. Das ist ja auch die Kraft des Theaters, deshalb mache ich Theater, weil ich weiß, da kann ich ganz anders agieren, da habe die Möglichkeit, Dinge auch ganz anders zu behaupten, oder andere Bilder zu kreieren.

Sind da die Kinder und Jugendlichen prädestinierter, das offen aufzunehmen?

Zum einen muss man sagen, dass das Publikum durch die Schulklassen schon generell gemischt ist. Bei Gruppen ab 10, 12 Jahren, fragen die aus dem Publikum immer, wenn SchauspielerInnen unterschiedlicher Herkunft auf der Bühne sind: „Woher kommst du? Aha, dein Vater ist von dort und deine Mutter von da. Ja, meine Mutter ist auch von dort, aber mein Vater ist von dort“. Die vielen interkulturellen Eltern, bei welchen beide Teile aus anderen Kulturkreisen kommen, sind für mich heutzutage die Normalität. Die ist aber, außer im Tanz, in dieser Form auf den deutschen Bühnen noch sehr zurückhaltend zu finden. Ganz selten und vereinzelt wird jemand unabhängig der Hautfarbe oder Herkunft besetzt. Für mich ist das aber selbstverständlich, darum geht es mir. Obwohl ich das auch nie thematisiere. Dasselbe gilt für mich, wenn Menschen mit Behinderung auf der Bühne stehen, wie z.B. Adil, der bei mir und in vielen anderen Produktionen schon gespielt hat. Da geht es aber nicht um seine Behinderung, sondern um seine Persönlichkeit, die etwas zu sagen hat. Es geht um das Selbstverständnis, wie er sich innerhalb der Gruppe bewegt. Darum geht es mir. Ich versuche, das immer wieder zu sagen: Das ist so wichtig und so stark – das ist für mich das stärkste politische Zeichen, das ich überhaupt setzen kann und möchte, das ich supporte und forciere und auch immer wieder die anderen Gruppen darauf hinweise.

Ich sehe unser Theater als eine Art UtopieBoys Awakening (c) Rainer Berson

Ich habe schon den Eindruck, dass die Kinder sehr viel offener sind, was die Vorurteile und ihre eigenen Gefühle in Bezug auf Gerechtigkeit, Wahrheit, Lüge betrifft. Wie wir wissen, sind die Kinder ja alles keine Heilige, sind oft ungerecht und gemein zueinander. Aber im tiefsten Inneren verstehen sie diese ganzen Machenschaften. Sie können ja noch nicht nachvollziehen, warum jemand so oder so zu jemandem ist. Ich habe immer das Gefühl gehabt: Mein eigenes Kind ist farbenblind in der Schule. Der sieht nur, wie jemand ist und nicht, wie jemand aussieht. Je älter sie aber werden, wird das durch die Zuordnung der Schulen, durch das Trennen, anders aufgeteilt. Je nachdem in was für eine Schule man geht, gibt es Unterschiede. Aber mehrheitlich passieren dann andere Dinge wie wir wissen, denn da wird die Gesellschaft ja schon geformt oder zugeordnet, wer zu wem wohin gehört. Insofern glaube ich schon, dass sie eine größere Offenheit haben. Sie sind noch nicht so festgefahren auf irgendeine Meinung.

Wie ist es Ihnen denn im Laufe der letzten Monate in und mit der neuen Aufgabe als Leiterin des Dschungel gegangen?

Das Erste, was ich dazu sagen kann ist: Ich habe dafür 20 Jahre trainiert und ich kann alles, was ich hier brauche. Ich kann Buchhaltung, ich weiß, wie man eine Gruppe leitet, ich kann mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umgehen, mit unterschiedlichen Künstlern, die Organisation habe ich ja 20 Jahre lang gemacht. Ich habe mich hier hingesetzt und es war eigentlich genauso wie früher, nur habe ich jetzt das Gefühl, dass ich mein Know-how auf einer sehr viel breiteren Ebene weitergeben kann. Dabei bin ich in meinem Verständnis als ältere Kollegin tätig, mache viel dramaturgische Beratung bei verschiedenen Gruppen. Mir ist überhaupt der Austausch, die Kommunikation mit den Künstlerinnen und Künstlern der Gruppen ein total wichtiges Anliegen, auch was das Inhaltliche betrifft. Wir reden einfach miteinander. Natürlich haben sie ihre Ideen und wir reden dann weiter darüber. Oder ich habe zum Beispiel ein Jahresmotto, das mir wichtig ist. Damit meine ich einen offenen Begriff, was dann auch etwas macht, ohne dass ich will, dass Leute Stücke explizit dafür machen. Ganz im Gegenteil.

Können Sie das Motto der nächsten Spielzeit schon nennen?

Ja, das Motto der nächsten Spielzeit kann ich schon sagen, es heißt: Wer rettet die Welt? Das ist auch ein bisschen ironisch gemeint, auch augenzwinkernd, aber auch sehr ernsthaft. Dabei habe ich gemerkt, dass dieses Thema sofort etwas auslöst. Dadurch habe ich das Gefühl, dass wir sehr viel gemeinsam an einer Sache arbeiten. Ich glaube, alle Gruppen hier am Haus sind sich bewusst, dass wir hier ein Theater mit einem gesellschaftspolitischen Anspruch machen.

Ich sehe unser Theater als eine Art UtopieCorinne Eckenstein (c) Rainer Berson

Sie sehen den Dschungel als ein ganz besonderes Haus mit einem ganz besonderen Auftrag.

Ich glaube, dass gerade dieses Theater kultur- und gesellschaftspolitisch so wichtig ist, weil wir wirklich Menschen erreichen, wo kein anderes Theater hinkommt. In der Musik am ehesten noch, aber sonst gibt es das nicht. Und gerade da gilt es doch, am allermeisten zu investieren. Ich will mich nicht beklagen, aber die Notwendigkeit und Wichtigkeit dieses Hauses hier, wird nicht richtig gesehen. Alleine schon wo dieses Haus liegt, an der besten Kulturadresse Wiens. Es wird international gesehen und ich habe immer wieder, wenn Leute von auswärts kommen, die glauben gar nicht, dass es so etwas gibt. Es ist einzigartig in dieser Form. Man könnte ein bisschen mehr damit leuchten und Wirkung nach außen setzen. Das vermisse ich halt leider nach wie vor, weil es halt „nur“ Theater für Kinder und Jugendliche ist. Das verstehe ich nicht. Die Umverteilung der Fördermittel macht es uns nun zusätzlich schwer, Kooperationen einzugehen. Vielen der Gruppen, mit denen wir zusammenarbeiten, wurden die Förderungen auf Null gekürzt. Das heißt, ich weiß noch nicht wirklich, wie wir hier weiter zusammenarbeiten können, weil hier das Geld nun definitiv fehlt.

Gibt es etwas, was Sie sich für die nächsten vier Jahre vorgenommen haben, was hier noch nicht implementiert ist?

Ja, noch eine größere Publikumsdurchmischung. Mit noch mehr Projekten unterschiedlichster Menschen und unterschiedlichster Herkunft. Mit noch mehr KünstlerInnen, die hier arbeiten. Des Weiteren ist es für mich auch wichtig, dass ein breiteres Angebot von Null bis über Zwanzig stattfindet. Aber auch noch eine stärkere, dafür stehe ich ja auch ein, Beteiligung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die mit angehenden Künstlerinnen und Künstlern dieses Haus weiter beleben. Ich möchte weiter dieses Haus als Stätte des Self-empowerments und Agierens anbieten. Da sind wir jetzt schon dabei mit dem Projekt Generation 16+. Wobei mir ganz wichtig ist, dass das auf einem professionellen Level passiert. Es geht auf gar keinen Fall darum, sogenannte Schüleraufführungen zu machen. Da ich ja selber schon seit ewig so arbeite, mit dieser Mischung aus Profis und Jugendlichen und Kindern auf der Bühne, auf einem ganz hohen Level, gibt es hier schon Regisseure, Regisseurinnen und Choreografinnen, die das weiterentwickeln und weiterverfolgen, das aufnehmen und die auch die Kapazität dafür haben. Auch diese Gleichwertigkeit auf der Bühne ist natürlich auch ein ganz klares, politisches Zeichen für mich. Hier sind nicht Kinder nur einfach Kinder oder Jugendliche einfach Jugendliche. Das sind alles Menschen, die eine Stimme haben und diese auf eine künstlerische und gesellschaftspolitische Weise formulieren. Und das in Zusammenhang mit Profis hebt natürlich auch das Niveau einer Produktion. Hier steht niemand auf der Bühne, nur weil es niedlich ist. Niedlichkeit ist nicht angesagt. Sondern ich möchte ein lebendiges, anspruchsvolles Theater.

Würden Sie den Satz unterschreiben: Theater kann etwas bewirken?

Auf jeden Fall! Es hat bei mir als Jugendliche viel bewirkt, sonst würde ich hier nicht sitzen.

Bewirkt es heute bei Ihnen auch noch immer etwas?

Ja, sonst könnte ich hier nicht sitzen!


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