Greenway, Alice: Weiße Geister

Ich kaufe Bücher auf Vorrat, lege sie zur Seite und lasse den vermeintlich perfekten Lesezeitpunkt entstehen. Als ich vor einigen Wochen meinen Stapel der ungelesenen Bücher nach einer Strandlektüre durchforstete, fiel mir „Weiße Geister“ wieder in die Finger. Vielleicht wird der Begriff Sommerbuch des Öfteren überstrapaziert, aber in diesem Fall erübrigt sich aus meiner Sicht jede Diskussion – leichter, sanfter und zerbrechlicher kann ein Sommer nicht beschrieben werden.


Klappentext

Hongkong 1967: Während die britische Kronkolonie von Maos revolutionären Aufwieglern erschüttert wird, leben die beiden Schwestern Frankie und Kate seltsam entrückt in ihrer eigenen Welt. Sie schwimmen im Hafen, tauchen durch das jadegrüne Wasser, pirschen durch den Dschungel und lauschen den Geschichten der chinesischen Haushälterin Ah Bing. Doch ein durch die politischen Unruhen verursachtes traumatisches Erlebnis zerstört ihre unschuldsvolle Verbindung. Während Kate sich in sich selbst zurückzieht, wird Frankie immer unberechenbarer, bis es zur Katastrophe kommt. Ein betörend schöner Roman über das Ende einer Kindheit.

Der erste Satz

Was kannst Du mir bieten?

Der Vietnamkrieg ist schon lange vollends eskaliert und die chinesische Kulturrevolution nimmt an Fahrt auf – Ende der 1960er Jahre ist Asien im Wandel und die Karten der globalen Machtverhältnisse werden neu gemischt. Als eines der letzten Überbleibsel imperialistischen Expansionsstrebens klammert sich Hongkong an alte Symbole und eine überkommene Lebensweise. Mit aller Macht versuchen die Briten den Glanz vergangener Kolonialjahre am Leben zu erhalten und die gärenden gesellschaftlichen Umwälzungen zu ignorieren. Dabei ist Maos Revolution längst in der Kronkolonie angekommen. Kommunisten ziehen demonstrierend durch die Straßen, Bomben explodieren und einzig ein löchriger Burgfrieden schützt die Einwohner vor der Radikalität Festlandchinas.

Frankie und Kate leben ein Leben, das es so schon bald nicht mehr geben wird. Ausgestattet mit allen Privilegien, die der Familie eines Auslandskorrespondenten zuteil werden, loten sie ihre Grenzen aus. Sie rebellieren, saugen gierig diese fremde Welt ein, gehen in ihr auf und verlieren sich in Träumereien. Die Mystik chinesischen Volksglaubens ist zu ihrer geworden, der Dschungel hinter dem Haus ihr Garten und die vietnamesischen Kriegstoten auf den Fotos ihres Vaters ein angenehmer Schauer auf dem Rücken. Hongkong ist der beste und schlechteste Ort für zwei pubertierende Mädchen.

Ich ziehe die Handschuhe an. Es scheint so wichtig für meine Mutter. Als ich meine zerkratzten, abgekauten Finger in die Handschuhe schiebe, habe ich das Gefühl, die Haut von jemand anderem überzustreifen, eine weißere, weichere als meine. Die Haut, die meine Mutter sich für mich wünscht.

Der politisch motivierte Wandel existiert nicht mehr nur in den Erzählungen des immer wieder mal heimkehrenden Vaters, sondern bricht mit aller Wucht und Gewalt in den Alltag ein. Auflehnung, Leid und selbst der Tod lauern überall und zu jeder Zeit und hinterlassen ihre Spuren auf den Schwestern. Obwohl beide die gleichen Erlebnisse teilen, nehme diese vollkommen verschiedenartige Einflüsse auf sie. Kate verliert sich in ihrer Empfindsamkeit während die ältere Frankie alle Grenzen überschreitet in ihrem Schrei nach Aufmerksamkeit und Geborgenheit. Angesichts des unumstößlichen Verrinnens der Kindheit entwickelt sich ein letzter gehetzter Versuch, Augenblicke zu schaffen, die zu Erinnerungen werden können. Wie erschreckend endgültig dies gelingen soll, möchte ich an dieser Stelle nicht vorweg nehmen.

Ich halte es grundsätzlich für problematisch, von Büchern eines gleichartigen Themas eine gleichartige Lesewirkung zu erwarten. Und dennoch empfand ich in jedem Satz die gleiche Emotion wie in McEwans „Zementgarten“ – eine alles umwabernde Melancholie, die aus dem aussichtslosen Bemühen entsteht, die Zeit anhalten zu wollen. Mit kurzen schnörkellosen Sätzen beschreibt Greenway eine Welt, an der mir als Leser etwas liegt und um die ich trauere, weil das absehbare Ende unaufhaltsam näher rückt. Greenway geht dafür über ein reines Beschreiben hinaus und lässt ein Miterleben und Mitempfinden zu. Der Vater ist zu selten Zuhause und wird vermisst, die Haushälterin ist der Zugang zur chinesischen Kultur und wird geliebt und Elefantenohrblätter halten neugierige Blicke ab und werden entsprechend geschätzt. An anderer Stelle habe ich bereits über „Der stille Amerikaner“ geschrieben. Während Greene brillant die machtpolitischen Verhältnisse in Südostasien seziert, legt Greenway vor diesem Hintergrund den Blick auf das Seelenleben heranwachsender junger Frauen frei. Für mich ein ebenbürtiges Kunststück und ebenso große Literatur.


Was bleibt?

Die erste Seite verrät bereits, was einen erwartet. Aufzählungsartig reiht Greenway Erinnerungen und Sinneseindrücke aneinander, die eine Exotik verströmen gegen die ich mich nicht wehren konnte. Wie gebannt tauche ich ein in eine Welt, die aus den Fugen gerät und an die mich klammern und sie bewahren möchte. „Weiße Geister“ ist ein Buch, das man mit allen Sinnen liest und das einen unmöglich unbeteiligt zurücklässt. Dabei schreibt Greenway selbst die umwälzendsten Situationen leise und bedächtig, aber so dicht, dass an ein Beiseitelegen und Vergessen nicht zu Denken ist. Intensivere Leseerinnerungen kann es kaum geben.

Greenway, Alice: Weiße Geister (Original: White Ghost Girls). Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn. Erstmals erschienen 2009.

Taschenbuchausgabe: marebuch. 220 Seiten. ISBN 978-3-596-18676-1. € 9,95.


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