Essai 169: Über Konkretes und Allgemeines

Normalerweise bin ich ja ein Vorbild an Selbstbeherrschung. Aber es gibt Momente, da bin ich so aus dem Konzept gebracht, dass ich einfach anfange zu flennen. Meine Lieblingsfreundin schafft es irgendwie jedes Mal, wenn wir uns sehen, mich so komplett zu verwirren, dass mir sofort die Tränen in die Augen schießen und ich Heulsuse dastehe wie der letzte Vollidiot.

Dann tut es ihr furchtbar leid und mir tut es furchtbar leid und es ist alles ein ziemliches Durcheinander. Ich glaube aber, es gibt ein Licht am Ende des Tunnels (das nicht von einem entgegenkommenden Zug kommt, falls das hier irgendein neunmalkluger „Realist“ dazwischenwitzeln wollte). Zumindest habe ich den Eindruck, dass ich mit jedem Heulkrampf der Antwort auf die Frage näher komme, warum es zwischen uns immer mal wieder Missverständnisse gibt.

Es ist nämlich so, dass sie gern anderen Menschen hilft, besonders denen, die sie mag. Mir will sie also auch helfen, und gibt mir dann ab und zu gut gemeinte Ratschläge. Leider kommen diese Ratschläge oft, bevor ich auf die Idee gekommen wäre, überhaupt ein dazu passendes Problem zu haben. Und das verwirrt mich, denn wenn man mir einen gut gemeinten Rat gibt, dann hat man offenbar den Eindruck, dass ich den gebrauchen kann. Und wenn ich ausstrahle, dass ich einen Rat brauche, müsste da doch auch ein Problem sein, das mir vielleicht nur noch nicht bewusst ist.

Dann fange ich natürlich an zu grübeln und zu überlegen, was für ein Problem ich denn haben könnte, das sich mit diesem Rat lösen ließe. Wenn ich auf Anhieb nichts Passendes finde, wirft mich das in einen Zwiespalt. Ich will ja gern dankbar den Tipp annehmen, aber wenn ich in dem Moment gar nicht weiß, wie ich das tun und kommunizieren soll, dann kann ich das nicht. Dann streiten – Ach! – zwei Seelen in meiner Brust und ich fange an zu heulen, weil ich nicht weiß, wohin mit meiner Verwirrung. Ja, und das ist dann jedes Mal total peinlich.

Meine Vermutung ist, dass wir in diesen Momenten einfach komplett aneinander vorbeireden und von unterschiedlichen Prämissen ausgehen und es deswegen zu Missverständnissen kommt. Ich glaube, sie meint den Ratschlag ganz allgemein und erwartet auch gar nicht von mir, dass ich ihn sofort in die Tat umsetze. Sie will’s halt nur mal gesagt haben, weil sie helfen möchte. Aber ich nehme das dann immer als konkrete Handlungsaufforderung wahr, nehme ihre Aussage viel zu wörtlich und denke, dass ich jetzt sofort irgendwie darauf reagieren muss.

Zum Beispiel: Ein häufiges Thema zwischen uns ist das „Über den eigenen Schatten springen“, also das Verlassen seiner Komfortzonen. Ihr Rat ist, dass man auch bei Kleinigkeiten über seinen Schatten springen sollte, weil es einem dann irgendwann in Fleisch und Blut übergeht und dann nicht mehr schwierig und anstrengend ist. Neulich waren wir im Restaurant und ich hatte eine Flasche Wasser bestellt, in der Annahme, dass damit klar ist, dass ich die 0,75 Liter Flasche meinte und nicht die 0,25 Liter. Der Kellner brachte aber Letzteres. Ich hab kurz überlegt, sage ich was? Aber dann dachte ich, geht ja auch so, was soll’s.

Daraufhin kam dann wieder der Ratschlag, ich solle doch auch in solchen Situationen ruhig mal den Mund aufmachen und den Kellner auf seinen Fehler hinweisen. Ich habe nicht geschnallt, dass die konkrete Situation als Beispiel gemeint war, weil sich das gerade anbot, sondern dachte, Oh nein, jetzt habe ich hier schon wieder alles falsch gemacht und mich schon wieder nicht getraut, mich zu behaupten und mich durchzusetzen, weil ich dafür zu blöde bin. Gleichzeitig dachte ich aber auch, ich hab mir das doch ganz bewusst überlegt, ob ich es für lohnenswert erachte, die Unbequemlichkeit auf mich zu nehmen, über meinen Scheißschatten zu springen oder nicht. Und in diesem bestimmten Moment fand ich es lohnenswerter, in Ruhe in meiner Komfortzone eingemuckelt zu bleiben.

Ich sehe ja ein, dass meine Freundin da theoretisch und allgemein vollkommen recht hat. Aber ist das denn so falsch, eine allgemeine Theorie in der Praxis in konkreten Situationen auf ihre Stimmigkeit hin zu überprüfen und sich bewusst dafür oder dagegen zu entscheiden, sie anzuwenden? Wenn ich zum Beispiel über meinen Schatten springe, um im Beruf weiter voranzukommen, indem ich bei passenden Gelegenheiten meine Wünsche und Vorstellungen äußere, dann lohnt sich das. Wenn ich damit leben kann, weniger Wasser zu trinken, muss ich doch nicht einen schusseligen Kellner zurechtweisen, obwohl mir das total unangenehm ist und ich selbst am Missverständnis nicht ganz unschuldig bin?

Oder sehe ich das falsch? Was meint ihr dazu: Soll man immer seine Komfortzonen verlassen, um des Komfortzonenverlassens willen, damit man sich daran gewöhnt und es einem irgendwann leicht fällt, seine eigenen Grenzen auszuweiten? Oder ist es in Ordnung, wenn man ab und zu, in harmlosen Situationen, ein bisschen bequem ist, sofern man mit den Konsequenzen seiner Faulheit zu leben bereit ist?

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