Eine stets besonders besorgte Industrie

Die Achse Bertelsmann-Springer kampagniert mal wieder. Weniger bombastisch als sonst, aber gut gestreut durch Programm und Geschmier' - sie gibt sich in boulevardesker Empörung und Besorgnis. Sexualstraftäter sind das Steckenpferd dieser emotionsgeladenen Diskurse. Mit spitzem Unterton und einer bürgerlichen political correctness, die ins Unkorrekte tendiert, die zur savanarolaschen Raserei wird, erzählen sie von den Abertausenden von Vergewaltigungen, Belästigungen, Ungerechtigkeiten gegenüber Opfern und Bevorteilung von Tätern - und sie stützen den Mob, der den Rechtsstaat mit einem billigen Rache-Dienstleister, einem schalen Vergeltungs-Service verwechselt.
Eine Gesellschaft von Gewalt- und Sexualstraftätern

Eine Ex-Minister-Gattin will den Kindesmissbrauch als Themenblock in den Unterricht einbauen lassen. Straftäter kastrieren?, fragt man mit unschuldigen Rehäuglein aufmacherisch. Ein Dorf in Aufruhr: Zwei aus der Haft entlassene Sexualstraftäter leben dort und sollen mit Gewalt aus dem Dort geprügelt werden! Zudem seltsame Themenschwerpunkte wie: Eine Vielzahl der jährlich zu Tode kommenden Frauen seien Opfer ihrer männlichen Partner. In Berlin hat ein Mann seine Frau zerstückelt, was Proteste gegen Männergewalt entfachte und nochmals die These von den von Männerhand getöteten Frauen aufwarf - Zerstückelung, eine der extremsten Perversionen als Beweis dieser männlichen Domäne? Aus diesem Ragout zwischen Herrschaftsphantasien und unbändiger Lust, die man ja dem Mann, dem Sexualstraftäter zuordnet, läßt sich immer etwas Empörendes filtern. Ist die Trivialisierung sexueller Straftaten schon schlimm genug, so ist die Zuordnung der Problematik zu einem reinen Männerthema, doch schon mehr als fahrlässig - jedenfalls, was die häusliche Gewalt angeht, die auch immer ins Feld geführt wird, wenn dergleichen Themen aktuell sind.
Es entsteht eine Wahrnehmung der Gesellschaft, wie sie nicht ist. Nicht an jeder Ecke lauert die Vergewaltigung, nicht überall ist die Fummelei an kindlichen Geschlechtsteilen standardisierter Alltag. Sie dürfte wohl eher die Ausnahme sein. Wenn Bertelsmann das Ergebnis einer Umfrage verkündet, wonach ein Drittel aller Frauen schon mal Gewalt durch männliche Hand erfahren haben, so muss der Wahrheitsgehalt angezweifelt werden - oder man sollte sich fragen, wie sich Gewalt hier definiert. Gab manche Frau an, schon mal ungestüm von ihrem Partner am Oberarm gepackt worden zu sein und haben die Auswerter das als Gewalttat veranschlagt? Männer würden den rüpelhaften Griff am Arm womöglich gar nicht als nennenswert erachten, womit auch nicht ein Drittel aller Männer schon mal weibliche Gewalt erfuhr, sondern ein geringerer Anteil - Dunkelziffern gibt es männlicherseits keine. Bei Frauen gleichwohl schon, denn zugleich mit der Studie erklärte man, dass es eine Dunkelziffer geben müsse.
Die Dramaturgie ist leicht zusammenzufassen. Sie ist ein Sud aus Klischees, dumpfen Vorurteilen und Bauchgefühlen, aus Racheaffekte und Vergeltungsrhetorik, aus unwissenschaftlichen Mann-Frau-Zuordnungen, wichtigtuerischem Hineinsteigern und Hochspielen, überzogenen Zahlenspielen und Statistikwerten, politischen Motivationen und reaktionären Patentrezepten, großem Moralisieren und der unreifen Erkenntnis, dass lediglich die strikte Überwachung des Verhältnisses zwischen Erwachsenen und Kindern, zwischen Mann und Frau dazu führen könne, Kinder oder Frauen vor sexuellen und gewalttätigen Übergriffen zu bewahren.
Eine eigene kleine Industrie
Die Gruppen, die das Thema köcheln lassen, implizieren der Öffentlichkeit, sie seien die Vertreter des Anstandes und der Sitte in einer Gesellschaft, die durch und durch fahrlässig und blind mit jenen Themen umgeht. Bestimmte Medien, gerade jene aus dem Hause Springer und Bertelsmann, verleihen Gruppen wie jener, für die die Guttenberg-Gattin wirbt, ein Forum. Dort verbreiten sie ihre Schreckgespenster, überspitzen und dramatisieren sie die Problematik. Sie sind überproportional öffentlich vertreten, stehen in keiner Relation zu den tatsächlichen Zuständen. Nur wenn es so wirkt, als gäbe es dauerhaft Vergewaltigungen und Nötigungen, Gewaltexzesse und -phantasien, Dunkelziffern verschüchterter Opfer und ein Übermaß an Rücksicht gegen Täter, können sich die Schutzgruppen öffentliche Aufmerksamkeit erhaschen. Sie sind zu einer Industrie herangereift, die übergroße Kulissen aufbaut, um darin leben zu können.
Diese anständige und sittsame Industrie verlangt eine unanständige und sittenlose Rechtssprechung. Sie rechtfertigt das damit, dass sie Deutschland als Paradies für Vergewaltiger und Kinderschänder, für Schläger und familiäre Ausbeuter bezeichnet. Strafen werden verharmlost und für zu milde befunden, Richter seien zu nachsichtig und urteilten nicht im Namen des Volkes. Die Todesstrafe wird zwar nicht gefordert, wird aber als rhetorisches Mittel toleriert - hierzu geht man auch immer wieder Bündnisse mit Rechtsradikalen ein. Die Lobbyisten, die das verbreiten, entstammen dem Boulevard oder der seichten Kunst. Til Schweiger kann hier als Beispiel gelten. Es ist eine Industrie, die Panik erzeugt, denn davon lebt sie. Und nebenber produziert sie an ihren Fließbändern gute und rechtsschaffene Menschen, nicht aber Aufklärung und Informiertheit.
Berichtet man von Missbrauch, ist ein Einspieler zum Gewaltpotenzial von Männern nicht weit
Es wirkt unübersichtlich, wenn hier bislang zwischen sexuellen Übergriffen an Kindern und Gewalt gegen Frauen kaum unterschieden wurde. Doch das ist programmatisch von der Lobby übernommen. Immer dann, wenn von Missbrauchsfällen berichtet wird, ist ein Schwenk zum generellen Gewaltpotenzial von Männern unabdingbar, eine Wendung zur häuslichen Gewalt von Männern gegen Frauen angesagt. Beides scheint im Weltbild dieser Lobbygruppen eine Einheit abzugeben. Der sexuelle Übergriff ist ein Akt der Gewaltverherrlichung und eine Machtdemonstration - eine stereotyp männliche Domäne. Der Schwenk zum Gewaltpotenzial ist die Generalisierung des Problems. Nicht einige wenige missbrauchen, nötigen oder schlagen, es ist ein Problem, das in jedem Mann schlummert und ausbrechen kann. Kinder und Frauen leben auf Pulverfässern, mit Zeitbomben zusammen, die von der Evolution auf Gewalt konditioniert wurden. Kulturelle Evolutionsprozesse existieren in dieser Verbohrtheit nicht; das menschliche Miteinander ist bloß ein naturalistisches Schauspiel, der Mensch quasi willenlos, durch Zivilisation nicht domestiziert, sondern immer noch mit den Affekten aus Höhlentagen behaftet.
Es gibt keine Unterscheidung bei Bertelsmann und Springer. Dem Bericht über die Zerstückelung einer Ehefrau folgte neulich das genannte Studienergebnis, wonach ein Drittel aller Frauen schon mal Männergewalt ertragen mussten. Bestialischer Mord und häusliche Gewalt werden vermengt, als ob jedes Ziel häuslicher Gewalt, die es natürlich geschlechtsübergreifend gibt, die Tötung des Partners beinhaltet. Wenn Partner Partner schlagen, geschieht das nicht mit der Absicht, den anderen zu töten - es ist eher Hilflosigkeit, kommunikative Beschränktheit, Jähzorn. Nachdem man über die Zustände in einem Dorf berichtete, in dem zwei ehemalige Häftlinge leben, die aufgrund eines Sexualdeliktes jahrelang hinter Gittern verschwanden, kam erneut dieselbe Studie ins Gespräch. Womöglich glaubt ein Teil der Besorgnis-Industrie, mit der Kultivierung männlicher Domänen, die aber nicht mehr als Klischee sind, könne man das Problem endgültig bannen.
Feindbild, nicht Patient oder Hilfebedürftiger
Lösungsansatz des industrialisierten Sichsorgens ist stets das Brachiale: Höhere Strafen, Kastrationsphantasien, ewiges Wegschließen. So geht man nicht mit gesellschaftlichen Problemen um - dies kommt eher einer Sonderbehandlung von Feindbildern gleich. Die Öffentlichkeit müsste eher dafür sensibilisiert werden, dass es auch für denjenigen, der merkt, dass er sexuelle Vorlieben entwickelt hat, die sich mit den gesellschaftlichen Konventionen und vielleicht gar mit der Menschenwürde nicht vereinbar sind, ein schweres Los ist, mit diesem Schandmal zu leben. Verständnis und Hilfe a priori - nicht Moral und Urteil hernach! Das erleichterte den Umgang der Betroffenen mit ihrem Problem erheblich, würde sie therapieoffener machen, transparenter mit ihrer sexuellen Entwicklung umgehen lassen. Nicht alle natürlich, aber doch viele. Vielleicht könnte so schon vorab vereitelt werden, was die Lobby jetzt hinterher schwer bestraft sehen will. Wenn der Pädophile sich nicht verschanzt, seine sexuelle Neigung daher unterdrücken muss, bis es nicht mehr geht, sondern sich offen Hilfe suchen kann, ohne dafür von seinem Umfeld gleich verurteilt zu werden, dann mag manches Leid an Kindern und Jugendlichen verhinderbar sein. Höhere Strafen schrecken vor nichts ab. Wie der Raubmord trotz Todesstrafe in den Vereinigten Staaten weiterhin floriert, so verhindern auch längere Haftstrafen nicht Sexualstraftaten - das Drakonische ist stets Nachreaktion, verhindert werden kann jedoch nur vorher, indem man Ursachen, Wurzeln und Antriebe kennt, aufspürt und bearbeitet.
Der Diskurs muss verstehen, dass es zwar ein Täter-Opfer-Verhältnis gibt nach so einer Tat, dass innerhalb dieses Geflechts ein Strang aber auch als ein Opfer-Opfer-Diskurs geführt werden muss. Der Missbraucher ist Täter in diesem Moment, aber er ist es, weil er auch Opfer ist oder war. Täter werden nie als Täter geboren - sie werden dazu gemacht. Wegen ihrer Biographie, die sie möglicherweise dazu werden ließ - ihrer inneren Konstitution wegen, die vielleicht günstig lag, bei entsprechender soziologischer Grundlage, auch bestimmte Sexualvorlieben zu entwickeln, bestimmte Machtkonstellationen zu forcieren, die mit den gesellschaftlichen Vorstellungen von Sexualität und Gewalt nicht deckungsgleich sind - und sie sind Opfer einer Gesellschaft, die dieses Problem nicht verständig angehen will, sondern zelotenhaft jedes Anzeichen dieses Problems als Teufelei und als unverzeihlich deklariert. Das geht so weit, dass man Ansätze, die für ein Verständnis des Problems plädieren, tabuisiert und als Gemeinheit an den Opfers diskreditiert, sogar als gutmenschliche Beihilfe zur Sexualstraftat herabmindert.
Hinwirkung auf den drakonischen Rechtsstaat
Die Beteuerungen, der amtierende Rechtsstaat sei zu lasch, erinnern an jene Polemiken, die einst das rechte Spektrum der Weimarer Republik verbreitete. Die Demokratie war für jene nur eine Plauderstunde, die zu nichts führe - Preis für diese geselligen und unergiebigen Runden sei, dass die innere Ordnung zerrütte, dass man Verbrecher zu zaghaft behandle und überhaupt gefühlsduselig und übermenschelt sei. Die Forderungen der Lobby und diverser Politiker, die sich von ihr einlullen lassen, klingen heute ganz ähnlich. Sie verbreiten Ansichten, wonach der Rechtsstaat von heute eine Teestunde für Sexualstraftäter darstelle - langjährige Haftstrafen werden nur als zu kurz zur Kenntnis genommen; Sicherheitsverwahrung als Luxushaft. Sie sinnen auf Rache, nicht auf Sühne durch rechtsstaatlich konzipiertes Strafmaß. Bei vielen kommt gar die Todesstrafe als legitimes Mittel zur Selbstverteidigung ins Spiel. Und es überrascht gar nicht, dass mancher aufgebrachte Mob sich mit den ansässigen Ortsverbänden der NPD zusammentut, um gegen anwohnende Ex-Häftlinge mit Sexualstrafvergangenheit aufzumarschieren.
Es ist insofern nicht ausschließlich der drakonische Rechtsstaat, wenn es dergleichen überhaupt geben kann, das gelobte Land - es ist ein Generalangriff auf das demokratische Selbstverständnis. Die Aussetzung von Bürger- und Menschenrechten scheint recht und billig bei aufgrund Sexualstraftat straffällig gewordenen Menschen - dass dies auch auf andere Straftaten ausstrahlte, darf angenommen werden. Man fordert körperliche Eingriffe, Verweigerung des Anspruchs auf Resozialisierung, Angriffe auf Leben - und man fordert etwas vage auch Eingriffe in die Leben aller, wenn man Überwachungsmechanismen bejaht, die vor einem solchen Verbrechen schützen sollen. Es zeigt sich, dass Betroffenheit und Besorgnis, emotional aufgeladen durch eine Industrie, die sich selbst medial erhalten will, in savanarolaschen Eifer münden kann, in einer Diktatur der Ehrbaren und Anständigen, in Gesinnungsdrangsal. Bertelsmann und Springer unterstützen diese Industrie und Lobby, weil die Absichten zur Schwächung der Demokratie zu ihrer Leitlinie gehört. Sie ist es gar nicht, weil sie Antidemokraten wären, sondern weil sie glauben, dass weniger Demokratie zu einer Stärkung derselbigen führte. Zu einer Demokratie, wie sie sie sich vorstellen. Wenn jeder beispielsweise weniger Privatrechte hätte, dann hätte die Allgemeinheit mehr Sicherheit, was man irrtümlicherweise als demokratisches Gut definiert. Diese Kombination aus Überwachungsmentalität und apriorischem Misstrauen und aposteriorisches Rachegefühl ist es, was dort als "wehrhafte Demokratie" verstanden wird. Und dieses Verständnis von Zusammenleben war es, was damals in ganz Europa zu faschistischen Ausbünden führte.
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