Edward Rutherfurd: New York

Wolfgang Krisai: Garten vor dem Freedom Tower, New York. Tuschestift, Buntstift. 2016.

Edward Rutherfurd kenne ich seit langem, seit ich seinen Roman „Sarum“ gelesen habe. Inzwischen hat er einige weitere historische Romane über bestimmte Orte im Lauf der Geschichte geschrieben, unter anderem über London, New York und zuletzt Paris.

Als ich im Sommer in New York war, wollte ich mir zwar so wenige Bücher wie möglich kaufen, in einer Barnes & Noble-Filiale in Brooklyn wurde ich aber doch schwach, als ich die Taschenbuchausgabe von „New York“ sah. Wäre doch die genau passende Nachbereitung einer NY-Reise! Also kaufte ich das Buch, um 18 $.

Am nächsten Tag besuchten wir die berühmte Buchhandlung Strand am Broadway in der Nähe des Union Square. Und was finde ich dort? Die gebundene, fadengeheftete Originalausgabe von „New York“ antiquarisch um 9 $! Kaufen? Ich lese doch viel lieber gebundene Bücher. Also kaufe ich diese Ausgabe und tausche tags darauf die Taschenbuchausgabe bei Barnes & Noble am Union Square (jener Buchhandlung mit dem tollen Café mit den Schriftsteller-Wandgemälden) gegen ein Buch über Urban Sketching um. Damit habe ich also schon zwei Bücher in NY gekauft. (Tatsächlich sollten es dann noch zwei weitere werden im Lauf der Zeit. Was ein Rekord an Selbstbeschränkung ist, der nur durch die Gewichtsobergrenze des Fluggepäcks bedingt ist. Gäbe es die nicht, wer weiß, wieviele Bücher ich gekauft hätte…)

Nun aber zu „New York“:

Rutherfurds Methode ist folgende: Erfinde vier, fünf Familien, die an einem gemeinsamen, bedeutenden Ort leben, und verfolge deren Geschicke über die Jahrhunderte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Lasse ganz nebenbei historische Informationen einfließen, sodass deine Leserinnen und Leser – dem Horaz’schen Grundsatz des „delectare et prodesse“ gemäß – auf unterhaltsame Weise die Geschichte des betreffenden Ortes kennenlernen.

1664 bis 2009

In New York ist es die Zeit von 1664 (die Kapitel haben Jahreszahlen als Überschrift) bis 2009. Es beginnt mit der Familie van Dyck: Der Pelzhändler Dirk van Dyck bringt seine uneheliche Tochter Pale Feather, deren Mutter eine schöne Indianerin aus einem Dorf etwas nördlich von Neu Amsterdam ist, mit in die Stadt. Irgendwie will er sie seiner Frau Margaretha vorstellen, einer recht resoluten Dame, mit der er seit Jahren glücklich verheiratet ist. Natürlich will er nicht verraten, dass Pale Feather seine Tochter ist – doch Margaretha durchschaut den Sachverhalt instinktiv und verlangt, das Mädchen müsse verschwinden. Was Dirk, der seine Tochter sehr liebt, zu vielen Jahren eines Doppellebens zwingt. Margaretha wiederum nimmt Dirks Fehltritt als Freibrief, herrschsüchtig zu werden. Dirk lässt sich zwar nicht alles gefallen, aber Margarethas Verhalten macht weder sie noch ihn noch ihre Kinder glücklich. Mit der Tochter Clara gibt es ohnehin nur Streit.

Bei einem Besuch im Indianerdorf schenkt Pale Feather ihrem Vater einen Wampum-Gürtel. Das ist ein kostbares, von ihr selbst gesticktes Stück, mit der indianischen Aufschrift: „Vater von Pale Feather“. Dirk solle ihn immer tragen. Was er zwar verspricht, aber in Neu Amsterdam nicht hält. Obwohl dort ohnehin niemand die Aufschrift lesen könnte.

Dirk überlebt sowohl seine indianische Partnerin wie auch seine indianische Tochter. Die beiden Kapitel, in denen er vom Tod der beiden Frauen erfährt, waren für mich die ergreifendsten des ganzen Romans. Den Wampum-Gürtel vererbt Dirk an seine Tochter Clara, die ihn wieder an eines ihrer Kinder vererbt, und so weiter, bis der Gürtel schließlich am 11. September 2001 vom nunmehrigen Besitzer an eine Freundin weitergeschenkt wird, da er von dem einstigen Wunsch Dirk van Dycks, der Gürtel solle innerhalb der Familie bleiben, nichts mehr weiß. Sarah Adler, die neue Besitzerin, hat am 11. September 2001 in einem der Twin Towers eine Besprechung und stirbt bei dem Anschlag. Der Wampum-Gürtel verpufft mit ihr zu Asche, die im Wind verweht.

Reiche Kaufleute und Bankiers

Die Familie, die im Roman die „Hauptrolle“ spielt, ist jene, in die Clara van Dyck einheiratet: die Masters. Tom Master begegnet, nachdem er nach Amerika ausgewandert ist, in der Wildnis Dirk van Dyck. Im Lauf der Zeit gehen die beiden eine Partnerschaft ein.

Die Masters entwickeln sich zu einer reichen Kaufmannsfamilie in New York, im 20. Jahrhundert wechseln sie ins lukrativere Bankfach, ein aus der Art geschlagener Master, Charlie, wird sogar – als Zeitgenosse und Bekannter Hemingways, O’Neills, Fitzgeralds – Schriftsteller. Er ist es übrigens, der mit Sarah Adler eine Liebesbeziehung hat, sie sogar heiraten möchte, doch Sarah, als Jüdin, lehnt schweren Herzens ab, da ihre Familie überzeugt ist: Wer eine oder einen Nichtjuden heiratet, bringt Unglück über die Familie und sich selbst.

Der letzte Master, den wir kennenlernen, ist Charlies Sohn aus einer geschiedenen Ehe, Gorham, der wie sein Großvater Bankier wird, aber in diesem Beruf nicht das hohe Niveau erreicht, das er gern erreichen würde. Das wurmt ihn so sehr, dass er einen Headhunter beauftragt, für ihn einen wirklich hohen Posten zu suchen. Am 11. September 2001 soll er – natürlich im World Trade Center – nun diesen Headhunter treffen, der für ihn in Boston einen Bankdirektorsposten gefunden hat. Unmittelbar davor trifft er sich mit Sarah Adler, die er kurz davor zufällig kennengelernt hat, und sie erzählt ihm von ihrer Liebe zu seinem Vater. Sie will ihm den Wampum-Gürtel zurückgeben, den Charlie Master ihr einst geschenkt hat. Gorham fasst Vertrauen zu der Frau und fragt sie um Rat in der Frage des Jobwechsels. Sie rät energisch ab. Er solle lieber seine Familie in New York glücklich machen, statt in Boston ein paar Millionen Dollar mehr zu scheffeln. Gorham schenkt ihr daraufhin den Wampum-Gürtel zurück, und sie nimmt ihn zu ihrer eigenen Besprechung (sie ist Galeristin) in WTC mit.

Gorham hingegen fährt zwar zum WTC, geht dann aber doch nicht hinein, sondern sagt dem Headhunter ab. Zufällig hat auch Gorhams Frau Maggie an diesem Tag im WTC ein geschäftliches Treffen (sie ist Anwältin), zum Glück in einem der unteren Stockwerke, sodass sie nach dem Anschlag aus dem Gebäude fliehen kann und nach dem Einsturz des Gebäudes den völlig verstaubten Ehemann irgendwo am Straßenrand sitzend findet.

Maggies Gynäkologe Dr. Caruso ist ebenfalls zufällig im WTC, auch in einem der unteren Stockwerke, und stellt sich als Arzt sofort den Rettungskärften zur Verfügung. Er kann das Gebäude verlassen und wird zu seinem Glück zur Trinity Church einige hundert Meter weit entfernt geschickt, weil dort die Verletzten versammelt werden. Auch Dr. Caruso stammt aus einer jener Familien, deren Geschick man durch mehrere Generationen verfolgt hat.

Der 11. September als finaler Knotenpunkt

Ist das nun gut, dass Rutherfurd den 11. September 2001 sozusagen zum finalen Knotenpunkt der Handlung macht? Selbstverständlich konnte er das Ereignis nicht ignorieren, sondern musste es in die Handlung sinnvoll einbauen, immerhin ist es das markanteste Geschehnis in New York des neuen Jahrtausends. Und man weiß: Die Welt ist ein Dorf. Es gibt die seltsamsten Zusammentreffen. Warum also sollten nicht ausgerechnet am 11. September vormittags Vertreter aller wichtigen Familien des Romans zufällig im WTC sein?

Wer sind nun die weiteren wichtigen Familien:

Eine Familie schwarzer Sklaven

Da wäre zum Beispiel die Familie des schwarzen Sklaven Quash, der das ganze zweite Kapitel aus seiner Perspektive erzählen darf. (Sonst gibt es dieses Ausbrechen aus der auktorialen Erzählperspektive nicht.) Er ist Sklave Dirk van Dycks, dieser verspricht ihm allerdings, ihm in seinem Testament die Freiheit zu schenken. Die herrische Margaretha van Dyck weiß dies aber zu verhindern und verkauft ihn an einen brutalen Plantagenbesitzer. Tochter Clara van Dyck und ihr Mann machen ihn dort jedoch ausfindig und kaufen ihn zurück. Schenken ihm tatsächlich die Freiheit, behalten ihn aber als Angestellten.

Das Ende der Familie von Quash, die später den Familiennamen River und den häufigen Vornamen Hudson bekommt, kommt mit dem amerikanischen Bürgerkrieg, in dem die New Yorker zahllose Schwarze lynchen, von denen sie befürchten, sie würden ihnen ihre Jobs stehlen. Der letzte Hudson River wird zwar von seinem Chef Sean O’Donnell versteckt, schleicht aber aus dem Versteck auf die Straße, wird vom Mob erwischt und aufgehängt.

Aus schlechtem Hause

Die O’Donnells sind eine weitere wichtige Familie. Sie stammen aus einem Armenviertel New Yorks, der Vater ist Trinker und ein Taugenichts, Sohn Sean wird ein halber Mafioso, Tochter Mary O’Donnell bekommt einen Job als Hausmädchen bei Hetty und Frank Master Ende des 19. Jahrhunderts. Den Job bekommt sie nur, weil ihre Freundin Gretchen Keller beim Vorstellungsgespräch dabei ist und das Blaue vom Himmel lügt, wie seriös die Familie O’Donnell nicht sei.

Mary wird im Lauf der Jahre zur Freundin der Hausherrin Hetty Master und steht ihr bis zu ihrem Lebensende zur Seite.

Frank Master – der ein von Hetty toleriertes Verhältnis mit einer Schauspielerin hat – fördert den Bruder von Gretchen Keller, den Fotografen Theodore Keller. Diesen hätte Mary gern geheiratet, aber die Umstände verhindern das damals.

Eine italienische Familie

Die italienische Familie Caruso vertritt im Roman die italienischstämmigen Amerikaner. Anna Caruso kommt bei einem Brand der Textilmanufaktur, wo sie unter schlechten Bedingungen arbeitet, um. Ihr Bruder Paolo schließt sich der Mafia an und wird in einer Fehde erschossen. Ihr zweiter Bruder Angelo wird Künstler und der dritte, Salvatore, wird Maurer und arbeitet am Bau des Empire State Building mit. Zwischen Angelo und ihm besteht ein gespanntes Verhältnis, weil dieser ihm seine Freundin, Teresa, wegschnappt. Als Angelo eines Tages auf der Baustelle des Empire State Buildings zeichnen kommt, passiert fast eine Katastrophe: Angelo droht vom Wind in die Tiefe gerissen zu werden, Salvatore kann ihn gerade noch retten, verliert aber selbst das Gleichgewicht, stürzt ab – wird von einem heftigen Aufwind aber wieder durch ein Fensterloch ins Gebäude gerissen und bricht sich nur das Bein.

Darf ein Romanheld solch unverschämtes Glück haben? Ja. Das gibt’s im Leben eben auch: unverschämtes Glück.

Übrigens hat die Familie Caruso noch ein anderes Glück: die Namensgleichheit mit dem berühmten Sänger Caruso. Dieser speist sogar einmal mit den Carusos und erweist sich als wahrhaft süditalienisch großzügig.

Welche Abschnitte der Geschichte New Yorks stehen im Mittelpunkt?

Der Unabhängigkeitskrieg

Der bedeutendste Schwerpunkt ist sicher der Unabhängigkeitskrieg, der über viele Kapitel ausführlichst behandelt wird, was hochinteressant ist. Man erlebt den Krieg aus dem Blickwinkel jener mit, die meist weitab von den eigentlichen Schlachtfeldern leben, die Auswirkungen des Krieges aber deutlich zu spüren bekommen.

Hier macht Rutherfurd einen schlauen Schachzug: Ende des 18. jahrhunderts ist John Master der Patriarch der Familie. Er ist zunächst überzeugter Loyalist, was bedeutet, dass er im Unabhängigkeitskrieg auf der Seite Englands steht. Sein Sohn James hingegen, der lange Jahre in England studiert und gearbeitet hat, ist von dieser Nation so enttäuscht (politisch und persönlich), dass er sich den Vertretern der Unabhängigkeitsbewegung, den Patriots, anschließt, und unter George Washington als Offizier kämpft. Die Masters in New York bekommen von James einstigem Freund Grey Albion, Sohn eines Londoner Geschäftspartners und persönlichen Freunds Johns, Besuch, der als Offizier in der englischen Armee dient.

Als John Master erleben muss, unter welch unmenschlichen Bedingungen die Engländer ihre amerikanischen Kriegsgefangenen vegetieren und sterben lassen, wird seine loyalistische Einstellung jedoch erschüttert, sodass er, als New York belagert wird, den Soldaten Washingtons sein Haus öffnet und sie verköstigt.

Natürlich kommt es zu einer Begegnung zwischen James und Grey im Felde. Grey hat sich in James’ Schwester verliebt, will sie sogar heiraten. Davon hat James erfahren. Als er nun Grey im Schlachtgetümmel vor die Pistole bekommt, lässt er ihn nur unter der Bedingung leben, dass er von seiner Schwester ablasse. Was dieser schließlich verspricht.

Auch der amerikanische Bürgerkrieg spielt in der Handlung eine bedeutende Rolle, vor allem, weil damit auch die Frage der Sklaverei verbunden ist.

Wirtschaftskrise

Später geht es vor allem um das wirtschaftliche Auf und Ab, das in der Wirtschaftskrise der Dreißiger Jahre gipfelt. Hier ist es der Heilige Antonius, der Onkel Luigi aus der Caruso-Familie vor dem Verlust sämtlicher Ersparnisse rettet: Luigi hebt nämlich knapp vor dem Börsenkrach alle seine Ersparnisse von seinem Konto ab, weil er schon ein seltsames Gefühl hatte und ihn die Sonntagspredigt des Pfarrers, der über die Versuchungen Christi predigte, darin bestärkt hatte, es am Finanzmarkt nicht zu übertreiben.

Auch William Master, damals Senior der Familie, geht knapp ab Ruin vorbei. Sein Vermögen hätte sich in Luft aufgelöst, wenn ihm nicht seine Frau Rose unter dem Vorwand, auf Long Island ein luxuriöses Sommerhaus zu bauen, mehr als eine halbe Million Dollar entlockt hätte. In Wahrheit ahnte sie den Börsenkrach voraus, weil sie kein so unbedingtes Vertrauen auf die Tragfähigkeit der Finanzwelt hatte wie ihr Mann, und legte das Geld so an, dass es die Krise überdauerte. Das Sommerhaus war pure Fiktion.

Der Blizzard von 1888

Eine sehr eindrucksvolle Stelle ist auch die Schilderung des Blizzards von 1888, wo eine Romanfigur sich mühsam im Sturm über die Brooklyn Bridge kämpft.

Stilistisch stellt der Roman an den Leser keine großen Ansprüche, denn er befindet sich ganz in der Tradition der großen Unterhaltungsromane der Gegenwart. Literarische Experimente wären da fehl am Platz. Auch sprachlich war die englische Version für mich gut zu bewältigen, Google musste bei manchen Begriffen aushelfen, die nicht einmal in meinem Wörterbuch standen, wie „speakeasy“ (eine Spelunke, wo während der Prohibitionszeit illegal Alkohol ausgeschenkt wurde) oder „bootleg“ (Schmuggel). Auch den Englischen Begriff für Scharmützel lernte ich: „skirmish“.

Dem Roman sind einige Landkarten von New York in seiner historischen Entwicklung vorangestellt, leider aber kein Personenverzeichnis, das dem Leser in der Fülle der Figuren Orientierung verschafft hätte.

Edward Rutherfurd ist übrigens ein Pseudonym, wie mich Wikipedia belehrt hat.

Edward Rutherfurd: New York. The Novel. Doubleday, New York u. a., 2009. 862 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Garten vor dem Freedom Tower, New York. Tuschestift, Buntstift. 2016.


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