Direkte Demokratie: Fluch oder Segen?

Wie stehen Sie eigentlich zur direkten Demokratie? Sollte das Volk über wichtige Dinge selbst abstimmen können? Und wenn ja: Was sind wichtige Dinge? Ich finde, das sind bedeutsame Fragen, und ich muss auch gestehen, dass ich in meiner Meinung über die direkte Demokratie immer wieder schwanke. Es kommt halt drauf an, was hinten rauskommt, hätte Helmut Kohl gesagt. Ich weiß, das ist nicht besonders demokratisch und zeugt nicht vom Urvertrauen eines gefestigten Demokraten in die Reife und die Selbstheilungskräfte des eigenen Volkes, und es zeigt auch, dass ich dem Credo der Befürworter der sogenannten radikalen Demokratien gegenüber skeptisch bin, welches da lautet: Die demokratische Mehrheit hat immer recht.

Mit Volksabstimmungen ist es aber auch wirklich nicht ganz einfach. Ich verfolge hin und wieder die Aktivitäten eines Vereins, der sich “Mehr Demokratie e. V.” nennt und für Volksabstimmungen eintritt. Die These lautet: Je mehr Verantwortung das volk hat, desto vernünftiger ist es auch. Einige Vertreter dieses Vereins sind recht wortgewand und legen schlüssig dar, dass die repräsentative Demokratie ein Selbstbedienungsladen korupter Eliten ist, dass hier die Interessen weniger Personen oder Gruppen oft die Interessen der wirtschaftlich schwächeren Gruppen aushebeln, dass ganz allgemein gesprochen das Gemeinwohl massiv leidet, wenn das Volk von der Beteiligung an demokratischen Entscheidungen mit Ausnahme der Wahlen ausgeschlossen ist. In meiner Zeit als junger Wilder, ja, auch das hat es mal gegeben, lange bevor ich von dem Verein je gehört hatte, habe ich es anmaßend von unseren Repräsentanten gefunden, dass sie sich so mir nichts dir nichts über den Willen der Wähler hinwegsetzen konnten.

Aber dann hat man mir von Weimar berichtet, von der Macht der Propaganda, von der spielerischen Leichtigkeit, mit der Joseph Goebbels eine “Stunde der Idiotie” entfesseln und tausende und abertausende zu frenetischem Jubel für einen totalen Krieg anstacheln konnte. Das Volk, so sagten die Vertreter der repräsentativen Demokratie, ist nicht reif, und es ist sehr leicht verführbar. Was früher für mich nur eine Ausrede war, wurde mit zunehmendem Alter und zunehmender Einsicht in geschichtliche Ereignisse zu einer logischen Begründung. Vor allem trat ein weiterer Aspekt hinzu, der früher in meinen Gedanken keine Rolle spielte: Volksabstimmungen als absolutes, ultimatives Mittel der Rechtsetzung hebeln die Minderheitenrechte und den Minderheitenschutz aus. Sie bedeuten die Herschaft der Mehrheit, und zwar die Herrschaft der Mehrheit eines bestimmten, unberechenbaren Augenblicks. Und je länger ich die Radikalisierung immer breiterer Bevölkerungsschichten verfolgte, die sich zunehmend rechtsradikalen und rechtsextremen Ansichten zuwandten, desto skeptischer wurde meine Meinung zur direkten Demokratie. Wer bewahrt uns heute vor einer “Stunde der Idiotie”? Haben wir wirklich so viel aus der Zeit der weimarer Republik und des Nationalsozialismus gelernt? Winston Churchill soll einmal gesagt haben: “Das beste Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler.” Das klingt arrogant, und doch gab es Momente, in denen ich heimlich und nur ganz leicht genickt hätte.

Die Befürworter von mehr Volksabstimmungen führen als eines der positiven Beispiele direkter Demokratie die Schweiz an. In der Eidgenossenschaft werden viele grundlegende Fragen per Volksentscheid geklärt, und es ist auch möglich, eine Volksinitiative zu starten, also ein Volksbegehren auf den Weg zu bringen. Auch in der Schweiz legten in den letzten Jahren die rechtspopulistischen Kräfte in Gestalt der schweizerischen Volkspartei (SVP) in den Umfragen und bei Wahlen stetig zu. Im September 2015 wurden sie die stärkste Fraktion im Parlament. In letzter Zeit hatten sie bereits einige Entscheidungen erzwungen, die vom ausland als fremdenfeindlich angesehen wurden, wie zum Beispiel das Verbot, in der Schweiz Minarette zu bauen. Am vorletzten Wochenende nun wurde über eine Initiative der SVP abgestimmt, die es der Schweiz ermöglichen sollte, straffällig gewordene Ausländer ohne Gerichtsbeschluss automatisch nach Verbüßen ihrer Strafe in ihre Heimat abzuschieben. Dies sollte ohne Ausnahmen gelten, ohne eine
Härtefallregelung, und es sollte schon bei Vergehen wie zu schnellem Autofahren greifen.

Interessant war es, vor der schweizer Abstimmung die Verlautbarungen der Anhänger direkter Demokratie in Deutschland zu verfolgen. Plötzlich nämlich hieß es da, dass auch eine Volksabstimmung nicht die Rechte der Minderheit beschneiden dürfe, dass Volksabstimmungen nicht absolute Geltung haben könnten. Bekam man etwa kalte Füße? Verwunderlich war es jedenfalls nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass die SVP mit ihrer Initiative Erfolg haben würde, lag vor wenigen Wochen noch bei über 66 %. Also wieder ein Punkt auf meiner Argumentenliste gegen direkte Demokratie, dachte ich.

Und dann wurde ich vom Ergebnis der Abstimmung gründlich überrascht. Mit rund 60 % der abgegebenen Stimmen, bei einer Wahlbeteiligung von mehr als 62 %, was für Volksabstimmungen recht hoch ist, lehnten die Eidgenossen die sogenannte Durchsetzungsinitiative ab. Da hat ein Volk die Möglichkeit, den populistischen Parolen von einfachen Lösungen und hartem Durchgreifen zum Sieg zu verhelfen, und dann noch ein Volk, das allgemein als konservativ und restriktiv gilt. Doch dieses Volk entscheidet sich nach ausführlichem gesellschaftlichen Diskurs gegen solch harte Maßnahmen. Es zeigt sich menschlich, relativ unaufgeregt und trotz der durchaus populistischen Grundhaltung bei den letzten Wahlen kompromissbereit.

Ich gebe zu, das war eine der positivsten und unerwartetsten Nachrichten der letzten Zeit. Ja, es ist ein weiterer Punkt auf meiner Argumentationsliste, aber nicht gegen, sondern für mehr direkte Demokratie. Der positive Impuls, der von dieser Entscheidung ausgeht, hat mit der Tatsache zu tun, dass in der Schweiz ausführlich diskutiert wurde, und das im Zuge dieser Diskussion der für die Populisten sicher geglaubte Sieg dann doch noch verloren ging. Bildung und Diskussion sind wichtige Grundvoraussetzungen dafür, dass direkte Demokratie funktionieren kann. Dies gilt aber nur, wenn eine echte Wahl zwischen Alternativen besteht, und wenn es möglich ist, frei und offen zu debattieren und sich aus allgemein zugänglichen Quellen zu informieren.

Also: Wie stehen Sie eigentlich zur direkten Demokratie?

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