Die Lage in Fukushima ist katastrophal

Der Nuklear-Experte Mycle Schneider sieht die Atom-Ruine von Fukushima eine große Gefahr für die Bevölkerung Japans. Die Nahrungsmittelsicherheit ist nicht garantiert. Die bevorstehende Bergung derBrenn-Elemente sei ein hochriskantes Unterfangen. Er ärgert sich jedoch, dass sich die Sorgen vieler Menschen in Nordamerika und Europa
vor allem um den eigenen Bauchnabel drehen. Er fordert eine internationale Task-Force, die versuchen muss, das völlige Entgleiten der Situation zu verhindern.

Die Explosion, die sich im Atomkraftwerk Fukushima am 15. März 2011 ereignet hat, führte zu einer beispiellosen Umwelt-Katastrophe. Zweieinhalb Jahre später ist kein einziges Problem gelöst.

Mycle Schneider wurde 1959 in Köln geboren. Er ist Energie- und Atomexperte und berät Politiker, Institutionen und
Nichtregierungsorganisationen. Von 1998 bis 2003 war er Berater für das französische Umwelt- und das belgische Energieministerium. Nach 2000 arbeitete er zehn Jahre auch für das deutsche Umweltministerium.
Schneider gibt jährlich den unabhängigen World Nuclear Industry Status Report heraus. 1997 erhielt er zusammen mit Jinzaburo Takagi den Right Livelihood Award (Alternativer Nobelpreis).

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie haben 1997 den Alternativen Nobelpreis erhalten, für Ihre Warnungen vor Plutonium. Wie gefährlich ist Plutonium?
Mycle Schneider: Plutonium ist eine extrem toxische und gleichzeitig eine militärisch-strategische Substanz. Es gibt eine wissenschaftliche Debatte über die Frage, ob ein einziges oder mehrere Dutzend Millionstel Gramm inhaliert ausreichen, um tödlichen Lungenkrebs hervorzurufen. Wenige Kilogramm Plutonium, abhängig von der
physikalisch-chemischen Form—die jeweiligen genauen Mengen sind streng gehütetes militärisches Geheimnis—sind ausreichend für einen atomaren Sprengsatz. Die 6 kg Plutonium der Nagasaki-Bombe würden in eine Cola-Dose passen. In Frankreich rollt im Schnitt jede Woche mehr als ein Transport von der Wiederaufarbeitungsanlage in La Hague in der Normandie über 1.000 km öffentliche Straßen nach Marcoule im Süden. Ein Alptraum für jeden Sicherheitsbeamten.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: In Ihrem jährlichen Bericht zu Status der Atom-Energie – einem der wenigen
unabhängigen Berichte – warnen Sie eindringlich von der weiteren Entwicklung in Fukushima. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Mycle Schneider: Ich hatte schon für die Ausgabe 2012 versucht, japanische Experten für ein Kapitel zu Fukushima zu
gewinnen. Leider sind die wenigen unabhängigen Fachleute in Japan hoffnungslos überlastet. Wir hatten also Glück dieses Jahr.
Die Lage in und um den Standort in Fukushima ist katastrophal. Das Problem ist vor allem, dass die japanische Regierung und die Aufsichtsbehörde den „Betreiber“ TEPCO haben alleine vor Ort herumwurschteln lassen. TEPCO ist ein Unternehmen, dass Strom produziert und verkauft, kein Spezialist für Aufräumarbeiten in einer hoch-kontaminierten Desasterzone. Ich bezweifle, dass RWE, EnBW oder E.ON in derartiger Situation ohne Hilfe erfolgreicher wären als TEPCO.
Meiner Kenntnis nach ist der World Nuclear Industry Status Report übrigens die einzige jährliche, globale und unabhängige Analyse zum Thema.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Welche Gefahren gehen von Fukushima für Japan aus?
Mycle Schneider: Der Standort birgt eine Unzahl von verschiedenen, hochkomplexen Herausforderungen. Das Gefahrenpotential sollte man an dem radioaktiven Inventar des Standortes festmachen. Es wird geschätzt, dass etwa das Dreifache der in Tschernobyl freigesetzten Menge an Radioaktivität aus den drei zerstörten Reaktorkernen
ausgewaschen wurde und sich nun in über 400.000 m3 Wasser—darunter etwa ein Viertel in den Kellergebäuden—und unkonditionierten Schlämmen und Filtern befindet. Die Lagerung, Behandlung und Entsorgung solcher Mengen
kontaminierten Wassers ist eine nie dagewesene Herausforderung. Über die Abfälle spricht noch niemand, aber ich verspreche Ihnen, dass das Thema zukünftig für Kopfzerbrechen sorgen wird.
Das andere große Kapitel ist die Lagerung des abgebrannten Brennstoffs in den Abklingbecken, die sich bei diesem Reaktortyp zwischen viertem und fünften Stock über dem Reaktor selbst befinden.
Dort liegt, allein in Reaktor 4, das Mehrdutzendfache der in Tschernobyl freigesetzten Menge an Radioaktivität. Der Kühlverlust und anschließende Brand des abgebrannten Brennstoffs in Reaktor 4 war bereits im März 2011 das „worst case scenario“, der GAU, wie ihn die japanische Atomenergiekommission beschrieb: die Evakuierung von 10
Millionen oder mehr Einwohner der Metropole Tokio. Ist es nicht bemerkenswert, dass von Anbeginn die größte Gefahr von einem Atomkraftwerk ausging, das zum Zeitpunkt des großen Erdbebens gar nicht in Betrieb war?
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Der nächste Schritt soll die Entfernung der Brennelemente sein. Die Atom-Lobby sagt, dass diese Operation eine Routine-Sache sei, ohne jede Gefahr. Stimmt das?
Mycle Schneider: Eine verantwortungslose Einschätzung. So kann man auch sicher nicht „die Atomlobby“ allgemein
zitieren. Diese Operation ist sehr problematisch. Alle Vorrichtungen für die routinemäßige Entladung des abgebrannten Brennstoffs wurden durch Erdbeben und vor allem die Wasserstoffexplosionen zerstört. Es wurde
also für Reaktor Nummer 4 ein neues Entladekonzept entwickelt, bei dem der Reaktorbehälter selbst benutzt werden soll. Fukushima 4 war ja zur Zeit des Beginns der Katastrophe nicht in Betrieb und der gesamte Kern befindet sich im Abklingbecken. Deshalb ist dort das radioaktive Inventar so groß wie in den anderen drei Reaktorabklingbecken zusammen.
Auch ist das Gebäude in katastrophalem Zustand und die Entladung dort besonders dringend – und gefährlich. Das Becken ist überschüttet mit Gebäudeteilen, Staub und anderen Explosionsüberresten. Das Entladekonzept wurde nicht international diskutiert. TEPCO wurschtelt weiter. Das ist das größte Problem.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die Atom-Leute sagen, das Ablassen von verseuchtem Wasser in den Pazifik ist kein
Problem. Es würde sich verdünnen – kein Grund zur Sorge. Stimmt das?
Mycle Schneider: Verseuchtes Wasser ist nicht gleich verseuchtes Wasser. Auch die Vertreter der Atomindustrie wissen, dass das hoch-kontaminierte Wasser, das mit den durchgeschmolzenen Reaktorkernen in Berührung kam, nicht einfach ins Meer abgelassen werden kann.
Langfristig ist aber in der Tat die Frage welche Lösung für derartig gigantische Wassermengen anvisiert werden können. Zur Zeit braucht TEPCO alle zweieinhalb Tage einen neuen 1000-m3 Tank.
Leider ist auch die anvisierte Vereisung des Bodens keine dauerhafte, wahrscheinlich nicht einmal eine provisorische, und deshalb riskante Lösung. Man wird langfristig zweifellos Wasser entweder verdunsten oder
ins Meer ablassen müssen. Das darf aber nur unter strengsten Auflagen und Kontrollen passieren, die garantieren, dass die Kontaminationswerte etwa unter den Werten liegen, die Reaktoren in Normalbetrieb abgeben dürfen. Das Problem ist hier, dass weder die japanische Bevölkerung noch die internationale Staatengemeinschaft weder TEPCO noch Aufsichtsbehörde oder Regierung vertrauen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Welche Gefahren könnten langfristig von Fukushima für die Menschheit auf der Nordhalbkugel ausgehen?
Mycle Schneider: Große Gefahr für die Bevölkerung in Japan. Ich finde es grotesk, dass die Sorgen vieler Menschen in Nordamerika und Europa sich in dieser Situation vor allem um den eigenen Bauchnabel drehen. Die größte Gefahr
besteht zweifellos für die japanische Bevölkerung. Bereits die heute freigesetzte Menge an Radioaktivität führt zu einem erheblich erhöhten kollektiven Strahlenrisiko in Japan.
Ich habe selbst in der Fukushima Region Dosisleistungen gemessen, die in wenigen hundert Metern um Größenordnungen variieren können. Die Nahrungsmittelsicherheit ist nicht garantiert. Gleichzeitig können Bauern aus der Region auch unbelastete Produkte nicht mehr verkaufen. Ein allgemeines Zertifizierungssystem würde gleichzeitig die Verbraucher schützen, Vertrauen bilden und die Existenz der Erzeuger mit unbelasteten Nahrungsmitteln garantieren. Doch nichts dergleichen passiert. Allgemeines Misstrauen regiert das Land.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Aus Alaska kommen fast täglich Meldungen von rätselhaften Erkrankungen von Fischen, Seelöwen und anderen Meerestieren. Kann es einen Zusammenhang geben?
Mycle Schneider: Epidemiologie ist eine komplizierte Wissenschaft. Zwischen Verdacht und Beweis liegt ein weiter Weg.
Angesichts bisheriger gesicherter Erkenntnisse, vor allem aus den Folgen der Tschernobyl Katastrophe, scheinen mir viele dieser Meldungen in ihrer Ursache-Wirkung Aussage etwas voreilig.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: In Deutschland sind die Leute sehr beunruhigt. Ist die Sorge begründet oder ist es die typische deutsche „Angst“?
Mycle Schneider: Die Frage ist worüber die deutschen Bürger beunruhigt sind. Ich finde es peinlich wenn z.B. deutsche Elitemusiker sich weigern auf Japantournee zu gehen, wegen angeblicher inakzeptabler Strahlenrisiken. So geschehen ab 2011. Die zusätzliche Strahlenexposition eines mehrwöchigen Aufenthalts in Japan ist irrelevant im Vergleich zu der Strahlendosis, die Reisende bei jedem Flug mit größter Selbstverständlichkeit akzeptieren. Gleich ob es bei der Risikoabschätzung um die bereits existierende oder potentielle zusätzliche Gefahr geht, diese ist unverhältnismäßig gering im Vergleich zu jener, der die japanische Bevölkerung ausgesetzt ist.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wir haben in Europa jede Menge KKW. Kann hier Ähnliches passieren wie in Fukushima?
Mycle Schneider: Ähnliches? Sehr unwahrscheinlich.
Mit ähnlichen Auswirkungen? Selbstverständlich. In den Top-12 der höchsten Bevölkerungsdichte in einem 30-km Radius rund um ein Atomkraftwerk—entsprechend der Evakuierungszone in Tschernobyl und Fukushima—befinden sich zwei in Betrieb befindliche deutsche Anlagen:
Philippsburg und Neckarwestheim, jeweils mit mehr als 1,5 Millionen Einwohnern. Ein Kernschmelzunfall an diesen Standorten ist keineswegs auszuschließen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wo sehen Sie die gefährlichsten KKW in Europa?
Mycle Schneider: Ich habe mich immer geweigert eine Hitliste zu erstellen. Wer hätte in Japan den größten Unfall seit Tschernobyl erwartet? Wir müssen lernen, Gefahr nach dem toxischen Inventar zu bewerten. Der Ansatz nach mathematischen Wahrscheinlichkeitsformeln wurde spätestens durch die Terrorangriffe des 11.September 2001 ad absurdum geführt. Wenn 20 Selbstmordkandidaten agieren wird eine Unfallwahrscheinlichkeitsrechnung irrwitzig.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Angela Merkel hat als einzige Politikerin unmittelbar nach Fukushima reagiert. Weiß sie als Physikerin mehr – nämlich wie gefährlich die Technologie wirklich ist?
Mycle Schneider: Frau Merkel wurde ja nicht 2011 zur Physikerin. Ihre Entscheidung post-Fukushima war eine Entscheidung der Politikerin Merkel. Wichtige Landtagswahlen standen an. Dies bedeutet nicht, dass die Physikerin Merkel an diesem 11. März nicht einen realen Schock erlitt und Ihr Glaubensgebilde zu Atomkraft in gewisser Weise
zusammenbrach. Sie hätte allerdings Jahre früher viele Gelegenheiten gehabt, eventueller Besorgnis kraftvoll Ausdruck zu geben. Kanzlerin Merkel war 1998 Umweltministerin während der sogenannten Castor-Affäre—die ich, nebenbei bemerkt, aufgedeckt hatte—und hat damals herzlich wenig beigetragen, um das potentielle Risiko dieser Industrie zu vermindern.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die Atom-Industrie sagt, Kernkraft sei die billigste Energie-Form. Stimmt das?
Mycle Schneider: Wie auch immer man die Kosten einer Kilowattstunde formulieren mag, neue Atomkraftwerke sind heute nach marktwirtschaftlichen Regeln nicht mehr finanzierbar. Die entscheidende Frage ist, wie intelligente Energiedienstleistungen—gekochte Nahrungsmittel, Wärme/Kälte, Licht, Kommunikation, Mobilität und Motorkraft—umweltfreundlich, gerecht und erschwinglich bereitgestellt werden können. Dafür gibt es viele Optionen. Inzwischen wird „Leasing“ in den USA zum Leitmodell in der Finanzierung von Solarenergie.
Das business model? Die Solar Firma, z.B. SolarCity (Slogan: „Be a superhero—control your energy bill“), die bereits in 15 US-Staaten präsent ist, finanziert und installiert Solarpanels. Die Bezahlung erfolgt über einen garantierten Kilowattstundenpreis 10-15% unter dem Tarif des lokalen Stromunternehmens. Währenddessen wurden innerhalb von wenigen Monaten die Schließung von fünf amerikanischen Atomkraftwerken bekannt gegeben – das erste Mal in 15 Jahren. Darunter befinden sich zwei Anlagen deren Laufzeitverlängerung um 20 Jahre bereits genehmigt
war (Kewaunee, Vermont Yankee). Die Stromproduktion dieser Reaktoren, abgeschrieben und nachgerüstet, ist schlicht nicht mehr konkurrenzfähig.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die „Entsorgung“ von Fukushima, wenn sie gelingt, wird nach Angaben des japanischen Rechnungshofs 38 Milliarden Euro kosten. Reicht das?
Mycle Schneider: Diese Zahl ist ein Witz. Niemand kann heute voraussehen, welche astronomische Zahl zusammenkommen wird, um den Standort Fukushima zu sanieren, zu demontieren, Umwelt- und Gesundheitsschäden zu kompensieren und die volkswirtschaftlichen Folgen zu reparieren. Aber sie wird zweifellos über der genannten Zahl liegen.
Dies ist freilich nur der materielle Wert. Welchen Wert das aufgegebene Zuhause, die verlassene Farm, die zurückgelassenen, verhungerten Tiere bedeuten, lassen zahlreiche Selbstmorde in der Region nur ahnen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was müsste geschehen, um die Lage in Fukushima doch noch einigermaßen unter Kontrolle zu bringen?
Mycle Schneider: Die Problematik am Standort selbst ist von beispielloser Komplexität in der Geschichte der Atomkraft. Dies war bereits absolut evident in den Tagen nach dem 11. März 2011. Am 26. März schrieb ich bereits an die französischen Aufsichtsbehörden, um zu fragen, ob eine konzertierte, internationale Hilfsaktion vorbereitet
werde, weil ich dies für unabdingbar hielt. Dies war und ist nicht der Fall.
Zweieinhalb Jahre später hat sich meine Ansicht nur verstärkt. Es bedarf einer Internationalen Task Force Fukushima (ITFF), die die besten Fachleute in den Schlüsselbereichen zusammenzieht und Zugang zu einem breiten internationalen Netzwerk hat. Sie sollte auf mindestens zwei Jahre eingesetzt werden, einen erheblichen Anteil
unabhängiger Experten beinhalten und von einer japanisch-internationalen Doppelspitze gemanagt werden. ITFF würde Empfehlungen für kurz-, mittel-, und langfristige Strategien entwickeln. Die Verantwortung würde selbstverständlich bei den japanischen Institutionen verbleiben.

Quelle: Deutsche Wirtschafts Nachrichten, 21.10.13



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