Die Einschulung: Ein Drama in drei Akten – 2. Akt: Ruin durch Schulutensilien

Dies ist eine Geschichte aus den frühen Jahren des Familienbetriebs. Das komplette Einschulungsdrama finden Sie hier.

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Nachdem wir gestern den Ranzen für die Tochter erstanden haben, denken wir nun, für die Einschulung gut gerüstet zu sein. Ein spektakulärer Irrtum, wie sich herausstellen sollte. Denn heute, zwei Tage vor dem großen Ereignis, finden wir im Postkasten einen mehrseitigen Brief vom Umfang des Quelle-Katalogs: ‚Die Erstklässler-Schulmaterialliste‘ (ein sperriges Wortungetüm, das hohe Gewinnchancen beim Galgenmännchen verspricht).

Stifte

In dem Brief führt die künftige Klassenlehrerin der Tochter detailliert allerlei Dinge auf, die vor Beginn des Schuljahres zu besorgen sind:

  • 1 kleiner Schreiblock DIN A5 (Lineatur für die 1. Klasse)
  • 1 kleiner Rechenblock DIN A5 (Karos für die 1. Klasse)
  • 1 transparente Hülle DIN A4 (an 2 Seiten offen)
  • 1 Hausaufgabenmappe
  • 2 Bleistifte (mit weicher Mine)
  • 3 dicke Dreiecksbuntstifte in rot, grün und blau (mit weicher Mine)
  • verschiedenfarbige Holzbuntstifte
  • 1 Dreikant-Bleistift
  • 1 schwarzer abwaschbarer Folienstift
  • 1 Radiergummi
  • 1 Bleistiftspitzer mit Hülle
  • 1 Lineal klein (ca. 17 cm)
  • 1 Lineal groß (ca. 30 cm)
  • Jaxon Künstlerölkreiden oder Wachsmalkreiden
  • 1 DIN A3 Sammelmappe für Zeichnungen
  • 1 Malblock DIN A4
  • 1 Malblock DIN A3
  • 1 Schere
  • 1 Klebestift
  • 1 Block Tonpapier (DIN A4)
  • 1 Päckchen Knete
  • Transparentpapier
  • Glanzpapier
  • 1 Malkasten mit mindestens 12 Farben
  • 2 Rundpinsel (1 x dünn und 1 x dick, z.B. Nr.6 und 10)
  • 2 Borstenpinsel (1 x dünn und 1 x dick, z.B. Nr.6 und 10)
  • 1 Tube Deckweiß
  • 1 Malbecher
  • 1 kleiner Schwamm
  • 1 Malschürze
  • 1 Mallappen
  • 1 Rolle Küchenpapier
  • 1 Paar Hausschuhe
  • 1 Turnbeutel
  • 1 Sporthose
  • 1 T-Shirt
  • feste Turnschuhe mit hellen Sohlen
  • 1 Brotdose groß (für Stullen)
  • 1 Brotdose klein (für Obst, gesunden Snack)
  • 1 Trinkflasche
  • Regenhaube für Schulranzen
  • 1 Lenkdrachen
  • 1 Schweizer Taschenmesser (ohne Messer)
  • 1 Heckenschere (ohne Hecke)
  • 1 Shetland-Pony
  • 1 Flugabwehrrakete

Eigentlich hätte uns der Brief schon vor zwei Wochen erreichen sollen. Da wir es aber für eine gute Idee gehalten hatten, in der Woche vor der Einschulung umzuziehen – nehmen Sie dies ruhig als weiteren Beleg für unsere weltfremde Naivität von Kaspar Hauserschem Ausmaß –, führten der Nachsendeauftrag, ein unmotivierter Briefträger und insbesondere ein fehlendes Namensschild am Briefkasten unserer neuen Wohnung zu der verspäteten Zustellung.

Nun haben wir noch zwei Tage Zeit, alles zu kaufen, was auf der Liste steht. Gemeinschaftlich entscheiden die Freundin und ich, dass ich mich um die Besorgung der Schulmaterialien kümmere und die Freundin die Zeit nutzt, um die Schultüte zu basteln. Der Entscheidungsprozess läuft folgendermaßen ab:

Freundin: „Du kaufst die Schulsachen, ich bastel‘ die Schultüte.“
Ich: „Okay.“

Sie dürfen jetzt nicht den falschen Eindruck bekommen, die Freundin drückt sich vor den beschwerlichen Einkäufen. Nein, sie hat lediglich das Seelenheil unserer Tochter im Sinn. Aufgrund meiner feinmotorischen Minderbegabung ist es dem Kind nicht zuzumuten, dass ich die Herstellung der Schultüte übernehme. Das Resultat meiner amateurhaften Bastelbemühungen wäre so erbarmungswürdig, dass die zarte Seele der Tochter dauerhaft Schaden nähme, ginge sie damit zu ihrer Einschulung, und die daraus resultierenden Kosten für den Kinderpsychologen wären astronomisch.

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Folgerichtig mache ich mich mit der Katalog-Liste und einem großen Trekking-Rucksack auf den Weg zum örtlichen Schreibwaren-Laden. Dort erwartet mich ein Bild des Chaos. Die Regale im Laden sind allesamt leer gefegt und es liegen lediglich ein paar vereinzelte Stifte, zerbrochene Lineale und verknickte Hefte auf dem Boden. Gab es Plünderungen durch schreibwütige Hooligans? Oder kam es zu Hamsterkäufen, weil für morgen die Zombie-Apokalypse angekündigt wurde? Oder konnte Bruce Willis nicht verhindern, dass ein Meteorit in Moabit und zwar genau in den Schreibwaren-Laden einschlägt? Fragen über Fragen.

Trete an die Verkäuferin heran, die gerade ein zertrümmertes Regal wegräumt. Erkläre ihr, dass ich ein paar Schulutensilien bräuchte und ob sie da noch etwas auf Lager habe. Die Frau mustert mich kritisch von oben nach unten und bricht schließlich in schallendes Gelächter aus.

Nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hat, fragt sie mich, ob mir bewusst sei, dass morgen erster Schultag sei. Ignoriere ihren unangemessen oberlehrerhaften Ton und bejahe die Frage. Erzähle ihr, dass die Tochter morgen eingeschult wird. „Ah, blutiger Anfänger“, murmelt sie spöttisch.

Dann kramt sie in einer Schublade unter der Kasse und holt einen einzelnen Radiergummi hervor. Dies sei der letzte, erklärt sie mir, und verkauft ihn mir mit den Worten „Angebot und Nachfrage regeln den Preis“ für das Doppelte des üblichen Ladenpreises. Kann somit zumindest einen Punkt in meinem Material-Katalog durchstreichen.

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Fahre anschließend mit der U-Bahn ins nahegelegene Einkaufszentrum. Der erste Schreibwaren-Laden in dem Center ist ebenfalls nahezu ausverkauft. Erstehe lediglich einen Bleistift (allerdings mit harter statt weicher Miene) sowie eine Sammelmappe mit Eselsohren. Der Verkäufer raunt mir zu, wenn ich auf eine Quittung verzichtete, könne er mir einen besseren Preis machen. Dieser liegt immer noch 453 Prozent über der unverbindlichen Preisempfehlung des Herstellers.

Im zweiten Geschäft für Büroartikel in der Einkaufs-Mall gibt es nur noch Lineale. 20 Stück an der Zahl. Kaufe sie alle für den Preis eines 64-GB-iPods der neuesten Generation. Hoffe, dass sich die Investition lohnt und ich die Lineale eventuell später als Tauschobjekt einsetzen kann.

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Recherchiere am Handy nach dem nächsten Schreibwaren-Laden und fahre anschließend in den Nachbarbezirk. Dort erwartet mich eine Enttäuschung. Im Schaufenster des Geschäfts steht ein Schild „Mache auf unbestimmte Zeit Urlaub an der Côte d‘Azur.“ Darunter ist ein sehr breit lachendes Gesicht gemalt. Anscheinend hat sich der Schulmaterial-Verkauf für den Ladenbesitzer gelohnt.

Das nächste Geschäft hat noch zwei Restexemplare von karierten Erstklässler-Matheheften und einen Malkasten, bei dem allerdings die Farben Rot, Braun, Hellgrün, Orange, Lila, Pink, Zitronengelb, Schwarz und Ocker fehlen. Gut, eigentlich ist es nur noch ein Aufbewahrungsbehältnis für die Farben Dunkelgrün und Sonnengelb, aber da darf man jetzt nicht kleinlich sein. Malkasten ist Malkasten. Nehme ihn daher trotzdem.

Zur Preisfindung konsultiert die Verkäuferin einen Computer, wie man ihn von Börsen-Tradern und Investment-Bankern kennt. Der Preis für Erstklässler-Hefte hat sich seit Anfang der Woche verdreihundertfacht, der von Malkästen ist um das tausendvierhundertfache gestiegen. Nach dem Bezahlen ist das Limit meiner Kreditkarte erreicht.

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Auf der Straße spricht mich eine Frau mit Sonnenbrille und langem Trenchcoat an. Sie flüstert mir verschwörerisch zu, ich solle ihr unauffällig in die nächste Seitenstraße folgen. Dort angekommen, schaut sie sich hektisch um, ob uns auch niemand beobachtet. Ein bisschen wie der Typ in der Sesamstraße, der Ernie irgendwelche Buchstaben und Ziffern andrehen möchte.

Plötzlich zieht die Frau aus ihrem Mantel einen Klebestift hervor und präsentiert ihn mir. Versuche, das Leuchten in den Augen zu unterdrücken, um meine Verhandlungsposition nicht unnötig zu schwächen. Deute an, dass ich unter Umständen Interesse an dem Klebestift haben könnte. Biete ihr zwei meiner Lineale an. Sie lacht höhnisch auf, spuckt mir vor die Füße und fragt, ob ich sie, ihre Familie und insbesondere ihre Mutter – Gott habe sie selig – mit diesem Angebot beleidigen wolle. Dies sei immerhin der letzte Klebestift in ganz Berlin-Brandenburg. Danach ruft sie einen mittleren dreistelligen Betrag auf.

Stehe vor einem Dilemma. Einerseits ist das ein unverschämtes und vollkommen inakzeptables Angebot. Andererseits erscheint vor meinem inneren Auge ein Szenerie, in der die Klassenlehrerin, die erstaunliche Ähnlichkeit mit Frau Mahlzahn aus ‚Jim Knopf‘ aufweist, die Tochter in barschem Ton anherrscht, warum sie keinen Klebestift besäße. Die Tochter stößt schluchzend hervor, ihr Vater habe die Schulmaterialien nicht rechtzeitig besorgt und sei dann zu geizig gewesen, einen marktüblichen Preis für einen Klebestift zu bezahlen.

Willige also wohl oder übel in den Deal ein. Die Frau erklärt mir, nur Bares sei Wahres. Hebe am nächsten Geldautomat die erforderliche Summe ab. In alarmierendem rot sehe ich auf dem Bildschirm, wie sehr unser Konto bereits überzogen ist. Mir wird schwindelig.

Während die Frau penibel die Geldscheine zählt, gibt sie mir den Tipp, am U-und S-Bahnhof Warschauer Straße gäbe es einen Mann, der Bundstifte verkaufe. Ich solle ihn aber nicht mit den Verkäufern der Zigaretten-Mafia verwechseln, die dort ebenfalls ihre Waren feilbietet.

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Fahre zur Warschauer Straße. Der Buntstift-Dealer hat noch die Farben Magenta, Mintgrün und Mausgrau vorrätig. Nehme alle drei Farben, handele ihn auf 170 Euro runter und lege noch drei meiner Lineale drauf. Versuche danach für die weiteren Einkäufe noch mehr Geld abzuheben. Der Automat lacht höhnisch auf und verweigert die Geldausgabe.

Rufe meinen Vater an und teile ihm mit, er möge mir mein Erbe vorzeitig auszahlen. Außerdem solle er das Geld unverzüglich mit Western Union zu einem kleinen türkischen Kiosk in Friedrichshain transferieren. Plötzlich ist die Leitung tot. Da meine Eltern in einer recht ländlichen Gegend wohnen, kann es schon mal zu Problemen mit der Telefonleitung kommen.

Suche weiter nach einer Lösung meines Cash-Flow-Problems. Telefoniere mit unserem Bankberater und erkundige mich nach einem kostengünstigen Kleinkredit. Entschuldigend erläutert er, dies sei in der Woche vor Schuljahresbeginn leider nicht möglich. Die Eltern schulpflichtiger Kinder höben in dieser Zeit immer so viel Geld ab, dass das deutsche Bankenwesen nur mühselig durch Notkredite der Europäischen Zentralbank aufrechterhalten werden könne. Er habe aber einen angeheirateten bulgarischen Schwipp-Schwager, der in Teltow eine private Kreditvermittlung betreibe. Der helfe mir bestimmt gerne.

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Begebe mich also nach Teltow und suche in einem heruntergekommenen Hinterhaus einen zwielichtigen Typen namens Ilian auf. Zu einem Wochenzins von 43 Prozent leiht er mir 500 Euro. Als er erfährt, dass ich das Geld für Schuleinkäufe benötige, hat er Mitleid und senkt den Zinssatz auf 42,5 Prozent. Ilian hat nämlich selbst einen Sohn in der vierten Klasse und kennt das Problem. Schenke ihm eines meiner Lineale, das er mit Tränen der Dankbarkeit annimmt. Zum Abschied gibt er mir den Tipp, dass es in Marzahn einen Schul-Schwarzmarkt gäbe. Dort solle ich ab 20 Uhr mein Glück versuchen. Bedanke mich überschwänglich und fahre mit der Bahn quer durch Berlin.

Sehe schon von weitem unweit des S-Bahnhofs eine große Brache mit mehreren improvisierten Verkaufsständen. Nachdem ich einen Bruchteil der restlichen Utensilien von meiner Liste erstanden habe, sind die 500 Euro von Ilian schon wieder ausgegeben. Steige danach auf warenbasierten Tauschhandel um und schaffe es tatsächlich, alle Materialien von der Liste zu besorgen.

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Kehre kurz nach Mitternacht von meiner Einkaufstour zurück. Die Freundin will in einer Mischung aus Sorge und Verärgerung wissen, warum ich erst so spät nachhause komme. Erkläre, der Heimweg habe etwas länger gedauert, weil ich zu Fuß von Marzahn nach Moabit laufen musste, nachdem ich meine ÖPNV-Jahreskarte gegen zwei Brotdosen und eine Trinkflasche eingetauscht hätte. Vorwurfsvoll erwidert die Freundin, ich hätte wenigstens anrufen können. Entgegne beschwichtigend, dass sei leider nicht möglich gewesen, da ein geschäftstüchtiger Schwabe im Besitz meines Handys sei, der mir dafür Sportkleidung, -schuhe und –beutel gegeben hätte.

Die Freundin schüttelt missbilligend den Kopf. Entscheide, dass jetzt wohl nicht der richtige Zeitpunkt ist, ihr mitzuteilen, dass ich am Samstag nach der Einschulung nicht mit ins Restaurant zum gemeinsamen Mittagessen mit der Familie und den Freunden kommen könne. Da bekomme ich nämlich eine Niere entnommen, die ich für Pinsel, Kreide, Knete und Bastelpapier verkauft habe. Ein guter Tausch, wie ich finde. Außerdem sparen wir so die Kosten für ein Essen. Angesichts unserer angespannten finanziellen Situation ist das doch auch ganz schön.

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Alle Teile des Einschulungs-Dramas können Sie hier lesen.


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