Die Allwissenden. Eine Mocumentary aus dem 22. Jahrhundert blickt zurück auf heute.

Die Allwissenden. Eine Mocumentary  aus dem 22. Jahrhundert blickt zurück auf heute.

Intro

Irgendwann im 22. Jahrhundert. Wir befinden uns in der Nachsnowden-Ära. Alles ist düster. Der Smog liegt wie eine Decke über der Stadt. Es gibt keine Jahreszeiten mehr. Stattdessen retten sich die Menschen in einzelne urbane Wärmezonen. Irgendso ein Depp hatte damals auch die Wettersysteme zerstört, mit denen unter anderem beispielsweise China die Wolken impfte. Ein anderer hat dann noch irgendwas gemacht, das in den Meeren rummste. Das gab eine Menge Tsunamis und so einen Dreck. Jedenfalls sollte zuvor die Natur noch einigermaßen in Ordnung gewesen sein  - damals als sie es nicht mehr aushielten mit dem Überwachungswahn.
Die Menschen drehten alle durch. Sie zerstörten die Rechner. Alle Maschinen. Die Politiker jagten sie von dannen. Alle anderen Anzugträger ebenfalls. So erzählen sie zumindest.  Niemand hat mehr Durchblick. Genaues weiß keiner mehr. Wie auch? Sämtliche digitalen Aufzeichnungsysteme sind zerstört. In den Trümmern suchen die Menschen nach Essbarem wie nach Spuren ihrer Geschichte. Weltweit gibt es keine Regierungen mehr. Trotzdem ... 
Unter einem Stein, weit unten in einem tiefen Gemäuer, so erscheint es zumindest, da die Schuttberge so hochliegen, entdeckt jemand ein Stück Papier. Der Finder ist erstaunt über den antiken Datenträger. Unbeholfen liest er den Text. Ein verwirrter Alter regt sich im Hintergrund auf. Er versucht ihn daran zu hindern, weiterzulesen. Zwischendurch ruft der Alte "Das sind sie! Das sind sie!". Aber der Finder liest weiter: 
Psalm 139
Der Mensch vor dem allwissenden Gott
Herr, du hast mich erforscht und du kennst mich.
Ob ich sitze oder stehe, du weißt von mir.
Von fern erkennst du meine Gedanken.
Ob ich gehe oder ruhe, es ist dir bekannt;
du bist vertraut mit all meinen Wegen.
Noch liegt mir das Wort nicht auf der Zunge –
du, Herr, kennst es bereits.
Du umschließt mich von allen Seiten
und legst deine Hand auf mich.
Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen,
zu hoch, ich kann es nicht begreifen.
Wohin könnte ich fliehen vor deinem Geist,
bette ich mich in der Unterwelt, bist du zugegen.
Nehme ich die Flügel des Morgenrots
und lasse mich nieder am äußersten Meer,
auch dort wird deine Hand mich ergreifen
und deine Rechte mich fassen.
Würde ich sagen: "Finsternis soll mich bedecken,
statt Licht soll Nacht mich umgeben",
auch die Finsternis wäre für dich nicht finster,
die Nacht würde leuchten wie der Tag,
die Finsternis wäre wie Licht.
mich gewoben im Schoß meiner Mutter.
Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast.
Ich weiß: Staunenswert sind deine Werke.
Als ich geformt wurde im Dunkeln,
kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde,
waren meine Glieder dir nicht verborgen.
Deine Augen sahen, wie ich entstand,
in deinem Buch war schon alles verzeichnet;
meine Tage waren schon gebildet,
als noch keiner von ihnen da war.
Wie schwierig sind für mich, o Gott, deine Gedanken,
wie gewaltig ist ihre Zahl!
Wollte ich sie zählen, es wären mehr als der Sand.
Käme ich bis zum Ende, wäre ich noch immer bei dir.
Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz,
prüfe mich und erkenne mein Denken!
Sieh her, ob ich auf dem Weg bin, der dich kränkt,
wohin mich vor deinem Angesicht flüchten?
Steige ich hinauf in den Himmel, so bist du dort;
Denn du hast mein Inneres geschaffen,
und leite mich auf dem altbewährten Weg

"Das muss so ein Dreck aus der Zeit sein als es geknallt hat!" - ruft der Finder. "Da hat der Alte recht." Er knüllt das Papier zusammen und schmeißt es fort. Es fällt wieder zwischen die Steine.
"Wer sind die?" - fragt ein kleiner Junge mit kräftiger Stimme. "Psssst." sagt seine Mutter. "Über sie spricht man nicht" - tuschelt sie: "Es soll noch einige geben. Besser ist, sie wissen nicht, dass wir hier leben." "Wieso? Wir sind doch nett." - "Jetzt leg dich hin und schlafe! Morgen ist ein anstrengender Tag!"
Währenddessen huscht im Hintergrund heimlich eine Gestalt gewandt ins Gemäuer. Niemand nimmt sie wahr. Ihre Kleidung ist schwarz. Ihr Gesicht vermummt. Sie sucht zwischen den Steinen. Es scheint, als hebe sie den zusammengeknüllten Zettel wieder auf und steckt ihn in ihren schwarzen Jutebeutel. Wie eine Katze verschwindet sie in der Nacht.
Zäh bemüht sich das Morgenlicht am nächsten Tag die Ruinenhügel zu beleuchten. "Er ist weg!" schreit der kleine Junge. "Er ist weg, Mamaaaaa!" Aus seinem Zelt schält sich der Alte "Da lässt mir die ganze Nacht die Prostata keine Ruhe, dann schlafe ich allmählich in der Morgenröte ein und DANN ..." der Rest ist unverständlich, scheint aber nicht sehr freundlich dem Jungen gegenüber zu sein. Grantelnd verschwindet er wieder in seinem Zelt. "Mammaaaaaaa!" - ruft der Junge mit den hohen Tönen seines Alters. Aus dem Zelt des Alten fliegt derweil eine blecherne Kasserole. Gekonnt hüpft sie über mehrere Steine. Klappert laut. Und bleibt dann irgendwann liegen.
Der Junge eilt zum Zelt seiner Mutter. Auf der Höhe des Alten bremst er ab, schaut kurz zur Seite, ob noch weitere Gegenstände unterwegs sind - und passiert dann die gefährliche Flugschneise.
In müdem Ton, der mehr wie ein Knurren klingt, denn wie ordentliches Sprechen, kommt nur ein träges "Ja, was denn, mein Junge?" - Der Sohnemann antwortet hastig, sich beinahe verschluckend vor Aufregung "Der Zettel ist weg. Der Zettel von dem, der alles weiß!" Die Mutter erschrickt. Der Alte schimpft aus seinem Zelt "Ja, haben sie den kleinen Quälgeist denn noch nicht geschnappt! Auf die ist auch kein Verlass mehr. Immer wenn man sie mal braucht ..."
"Das war sicherlich der Wind. Leg dich wieder hin." - "Wind? Unter den Steinen? Spinnst du?" fragt der Sohn etwas frech seine Mutter - in diesem Fall zu Recht seine Lebenserfahrung bemühend.
"Ach, das Drecksdingens", sagt der Finder, der etwas weiter weg irgendwo in einem zerfallenen Haus nächtigt. Aber inzwischen wegen der Unruhe auch vor dem Zelt der Mutter mit dem Jungen steht. "Ich finde für dich etwas anderes Schönes!" - "Will ich aber nicht!" so ertönt es trotzig. Wesentlich spitzer fragt er mit so gedehnten Worten "Wo ist er denn hin?" Denn er vermutet, die Erwachsenen haben den Zettel absichtlich vor ihm versteckt.
In weiter Ferne steht hinter diversen Mauerresten die vermummte Gestalt. Sie beobachtet das Streitgespräch - und verschwindet wieder.

Später

Der Finder und die vermummte Gestalt allein in einem zerfallenen Haus. "Wer bist du?" will der Finder wissen. "Das tut nichts zur Sache!" antwortet die unbekannte Person prompt. Der Finder schaut der vermummten Gestalt in die Augen. Die Zeit verstreicht. Keine weitere Antwort. Außer den Augen sieht der Finder nichts. Das Gesicht ist hinter irgendwas zwischen Ski- oder Ninjamaske verborgen. Es könnte auch so eine Art Tuaregbedeckung sein. 
"Was willst du!?!" fragt er so wie ihn pubertierende Gangster mal auf der Straße anraunzten. Die vermummte Person erwidert gelassen: "Kann ich dir trauen?" Er wird wütend.  "Bist du einer von denen?!?" Die unbekannte Person lacht. "Was ist denn daran lustig?" will er mit gesenkter Stimme sowie ernster Mine wissen. Sie greift in ihren schwarzen Jutebeutel. "Da!" - und überreicht ihm den Zettel. "Will ich nicht!" raunzt er nur.  "Dann für den kleinen Jungen!" - "Ach, willst du ihn verderben!?!" Der Finder ist stolz auf seine harte Art. Die unbekannte Person hingegen schüttelt nur mit dem Kopf. "Nochmal: Kann ich dir trauen?" Der Finder wird wütend: "Warum soll ich es sein, der dir erklären soll ..." Die vermummte Person unterbricht ihn "Ach, komm mit!"

Noch später

Der Finder und die vermummte Person nach langen Marsch sowie mehreren Klettertouren im Versteck. Es ist ein Raum, irgendwo in den Resten eines Gebäudes, der seltsam eingerichtet ist. Dabei irritiert den Finder nicht, dass die Unterkunft mehr einer Höhle gleicht. Das ist er gewohnt. Schon seine Eltern kannten nichts anderes mehr. Aber da war so eine bunte Lichterkette. Die hing vollkommen nutzlos über dem Hauptraum und versetze das gesamte Ambiente in ein seltsames abgedunkeltes Licht, das er noch nie gesehen hatte. Überhaupt nutzt kaum noch einer von ihnen elektrisches Licht. Es ging das Gerücht um, auch damit könnten sie von den Unaussprechlichen aufgespürt werden. Jede Steckdose zerstörten sie deswegen, sofern es noch welche gab. Umso mutiger fühlt er sich, jetzt in der Höhle des Löwen zu stehen. Inmitten anscheinend voll funktionsfähiger Elektrizität. Eben im Raum von so einem. Von denen. Den Namen wagt er nichtmals zu denken.
Aber er spürt einen Testosteronschub sondergleichen. So hat er sich noch nie gefühlt. Er ist ein Held. Und wenn er das nicht überlebt .. - "ach herrje! Ich habe niemandem gesagt, dass ich fort bin! Mann, sind die raffiniert!"
So mutig er sich auch sieht, er steht noch am Rande des Raumes. Die vermummte Person hingegen bewegt sich irgendwo im Dunkeln. Viel weiter im Inneren und fragt nur "Kann ich dir trauen? Kann ich dir wirklich trauen?"
Das geht ihm auf den Geist. Ist er es doch, der der Gute ist und die andere eine Person von diesen Unaussprechlichen, die ihn wohl wegen des Zettels anprangern will. Die Folter ist ihm bestimmt sicher, sofern ihm nicht eine gescheite Antwort auf die vermaledeite Frage einfällt.
"Ich will dir etwas zeigen!" so sagt die vermummte Gestalt. Der Finder befürchtet nun, dass er jetzt bestimmt gefoltert wird. Vielleicht ist Flucht eine Option. Doch dafür ist der Weg ins Versteck zu anstrengend gewesen. Er kann einfach nicht mehr. Stattdessen setzt er sich auf einen Stuhl, der in seiner Nähe steht. Da ist wieder dieses seltsame Gefühl - er als Held. Es tut ihm gut. Nein, es ist nicht die Entspannung, ausruhen zu können, weshalb er sich wohl fühlt. Er resümmiert seine letzten Lebensminuten so: "Wenn man sitzt, ist man angreifbar! Damit wird diese seltsame Person nicht rechnen, dass ich auf alles gefasst bin." Er trotzt der Gefahr. Er stellt sich der Gefahr. Er ...
"Ey!" spricht sie ihn an. Er erschrickt. "Das ist ganz wichtig". Dabei hatte sie in den letzten Minuten ein große schwere Decke von etwas entfernt. Nein, noch nicht ganz. Aber er passte eh nicht auf, hat nichts davon gesehen, sondern war die ganze Zeit mit sich beschäftigt.
"Ich brauche jetzt dein gesamtes Vertrauen ..." säuselt sie leise! Sie geht wieder ins Innere des Raumes. Diesmal lässt er nicht von ihr ab. Beobachtet sie. Bleibt aber sitzen. Solange sie einige Schritte entfernt bleibt, kann ihm nichts passieren. "Außer vielleicht erschießen" - so denkt er. Aber er sieht keine Waffe.
"Es ist verdammt warm hier" meint die vermummte Person. "Ich halte das nach der ganzen Kletterei einfach nicht mehr aus. Seisdrum!" und reißt sich ihre Maske vom Gesicht. Zu seiner großen Überraschung ist diese Unbekannte eine Frau. Und was für eine. Er kann es kaum glauben. Ihre volles brünettes Haar schüttelt sie über ihren Schultern aus. Ihm kommt alles vor, als erlebe er es verlangsamt. Wenn er doch die Zeit anhalten könnte. Er würde sich die Szene mit dem wallenden Haar wieder und wieder ansehen. "Warum nicht in die volle Pracht springen? Jetzt!" - so denkt sich unser Held nun. "Das ist es wohl, was sie mir zeigen will! Ach, besser mal abwarten, wer weiß, was noch kommt? Vielleicht ... wird der Abend noch ganz schön."
Er saugt geradezu mit den Augen auf, was er zu Gesicht bekommt. In Gedanken küsst er sich bereits den Hals von ihr rauf und runter. "Mann, hat sie süße Ohrläppchen!" Das schummrige Licht lässt ihn meist mehr erahnen als er wirklich sehen kann. Sie bleibt nicht ruhig auf der Stelle stehen, sondern geht hin und wieder mal ein paar Schritte im Raum. Vom Dunkel ins Licht, vom Licht ins Dunkel. Was sie da tut, erschließt sich ihm nicht. Ist ihm auch egal. "Und wenn sie mich danach umbringt, dann seisdrum!"
Ihm ist jetzt klar: Sie macht das für ihn. Sicherlich wird sie noch tanzen. Da sollte es früher auch technische Geräte gegeben  haben, die Musik konservieren können und immer dann abspielen, wann man wollte. Davon erzählte ihm der verwirrte Alte. Er ist nun bereit, sich dieser Gefahr hinzugeben. Sicherlich verbirgt sich so etwas unter den vielen Decken im Raum. Vor seinem geistigen Auge hatte sie schön längst kaum noch etwas an. Das sah in Wirklichkeit anders aus. Außer der Kopfbedeckung, hat sie nichts anderes entkleidet.
"Sie will bestimmt, dass ich aufstehe und sie in den Arm nehme. Jetzt! Meinen Arm um ihre schmale Taille lege, meinen rechten Arm, und sie schwungvoll an mich reiße. Derweil streicht meine linke Hand durch ihr volles Haar. Hach! Nein, über die Wangen. Unsere Lippen bewegen sich aufeinander zu. Kurz bevor sie sich berühren, bremsen wir beide ab. Verlangsamen unser Tempo. Spüren beide dieses Jaaaa! Wir wollen es beide! Ich sehe noch, wie sie langsam die Augen schließt. Wir beide schließen sie. Dann befinden wir uns in einer anderen Galaxie. Es kommt zum Kuss. Irgendwie ist sie ein Teil von mir. Ich. Du. Ach, das gibt es nicht mehr. Sie ist ich, ich bin sie. Ich spüre keinen Unterschied mehr. Meine rechte Hand wandert währenddessen über die Hüfte hinab zum runden, knackigen Po, dem ich genußvoll seinen Formen folge. Als ich den Oberschenkel an der Unterseite entlangstreiche umschließt ihr Bein langsam das meinige."
Da erschallt auf einmal ein "Ey, was machst du da eigentlich?!" Peinlicherweise erwacht der Finder aus seinem Tagtraum, merkt wie er sich in der Zwischenzeit seine Hose ausgezogen hat und nun in Boxershorts die Stuhllehne innig umarmt. "Ähm ... ich ... also ... hatte da eine dicke Spinne in der Hose." Er war mächtig stolz auf sich, die Situation so elegant gerettet zu haben. "Ich finde das Mistviech jetzt gar nicht mehr" spricht er mit gesenktem Kopf sein Beinkleid näher inspizierend. In Wahrheit atmete er kurz durch. "Das hätte auch schief gehen können! - Aber sie will mich ganz bestimmt! Es ist nur zu früh." - so fasst er still die Situation für sich zusammen.
"Was meinst du?" - fragt sie fordernd. Er hoch erfreut "Ja, was denn?" Sie zeigt auf das, was sie vor einigen Minuten freigelegt hatte. "Na, das!" Er traut seinen Augen nicht. Die Steckdosen sind ab jetzt das kleinste Problem. Was er sieht, kannte er bis eben nur vom Hörensagen. Das müssen Rechner sein! Sie blinken. Warum blinken sie? Sie scheinen miteinander verbunden zu sein. Das Blinken macht ihn nervös. Er erinnert sich schlagartig wieder, dass er in Gefahr schweben muss. Er fällt ihm ebenso ein, dass er bis eben noch mutig war. Ein Held. Achja ...
"Das ist ein Schneier IV Netzwerk!" - sagt sie voller Inbrunst. Dabei drückt sie ihren Rücken durch und macht ein Hohlkreuz. Vor Selbstbewusstsein strotzend. Der Finder schaut kurz zu ihr rüber. "Lieber nicht! Das ist bestimmt nur wieder so ein Trick, um mich zu verwirren." - "Du weißt doch! Schneier! B-r-u-c-e Sch-n-e-i-e-r !!!" - sie neigt sich nach vorne rüber wie eine Lehrerin bei der Abfrage der Hausaufgaben. Er fühlt sich nicht nur so als habe er sie nie gemacht, sondern als müsse er gleich für seine Inkompetenz büßen. "So sind die also. Die Unaussprechlichen. Ganz durchtrieben und hinterhältig." - so denkt er still vor sich hin. "Arbeiten mit den hinterhältigsten Mitteln. Hormonelle Folter! - das ist es!" Auch wenn er gleich hingerafft würde, so habe er wenigstens die Sache auf den Begriff gebracht, die ihn vernichtet. Brutal vernichtet. Sein eigener Heldenmythos erwacht wieder in diesem Moment.
"Aber wer ist nur dieser verflixte Schneier?" - ob er sie das fragen darf? Genervt läuft sie in diesem Augenblick nach hinten und kramt in einem Regal etwas vor. Sie liest ihm laut in Stichworten vor: "Bruce Schneier ... 21. Jahrhundert ... Spezialist in Kryptografie ... misstraute allen Politikern und Menschen aus der Wirtschaft und forderte die Techniker auf, dass Internet neu wiederzuerfinden! - Geil, ne?" fragt sie voller Überzeugung den Finder, der gewohnt war nichts von diesen gefährlichen Dingen jemals auszusprechen, geschweige denn als kleines Netzwerk angeschaltet vor sich zu sehen. "Was hast du vor?" - "Raffst du es immer noch nicht? Das ist ein Schneier IV. Das vierte neu erfundene Netzwerk von Schneier. Basis für ein neues Internet. Angeblich nicht existent. Angeblich so flexibel, dass es staatliche Überwachung von sich aus als Fremdkörper ausschließt!"

Hiergeblieben! oder kleine Lesestunde

Für einen Augenblick ist er sprachlos. Er wünscht sich, er wäre jetzt woanders. Seltsamerweise stellt er sich dieses Anderswo aber mit ihr vor. Irgendwie schleicht sie sich in seine Phantasien ein, ohne dass er es will. Sie ist bereits da. Jedenfalls wollte er nie inmitten eines blinkenden Netzwerkes sitzen, das - sofern es die Unaussprechlichen noch geben sollte - diese mit Sicherheit wütend machen würde. Und zwar deswegen, weil es angeblich sie ausschließt. Sie, die überall hinkamen. Die alles ausspähten. Die alles sahen und alles wußten - so wie auf dem Zettel geschrieben stand. Es kann natürlich ebenso sein, dass sie eine von ihnen ist. Eine, die ihn erst mit ihrer Weiblichkeit betört, um ihn aufs Gemeinste zu testen. Und dann Wums! Bang! Aus!
"Lies das!" Sie legt eine dicke Mappe vor seine Nase. Habe ich gesammelt. Notiert. Eingeklebt. Widerwillig klappt er den Deckel auf. "Vielleicht zeichnet sie alles auf - und dann soll er es gewesen sein ..." denkt er stumm. - "Laut!" erhallt es in gestrengem Ton.  Wie ein kleiner Schuljunge zuckt er zusammen. Irgendwo zwischen Angst und Faszination beginnt er schüchtern zu lesen. So ganz wohl fühlt er sich nicht dabei. 

+++ Die NSA beobachtet uns alle jederzeit. Uns, aber auch Terroristen +++

Mittlerweile gibt es keine Bereiche des täglichen Lebens, die noch unbewacht bleiben - so die Lehre der vergangenen Tage. Und die NSA, sie ist der allsehende Überwacher unseres mobilen und digitalen Alltags. Nicht der Verbrechen. Nicht der Terroristen. Vergesst das: von uns! 
Zugegeben, von den bösen Burschen beschattet sie auch ein paar. Aber vorwiegend uns Normalos. Zu jeder Zeit. Vielleicht nicht dann, wenn wir es vermuten oder womöglich sogar wollen. Einfach dann - und wenn - sie es macht und will. Und die Zusammenarbeit mit den heimischen Diensten scheint immer besser zu werden, je mehr herauskommt. Seltsam? Nicht bei diesem Thema.
Verbrecher und Terroristen werden beiläufig miterfasst. Was!?! - Das sei deren Hauptaufgabe? - Dann vergleicht die Zahlen der faktisch Beobachteten mit den real aufgedeckten Terroristen. Das ist nur beiläufig. Glaubt es mir.

+++ Knecht Ruprecht ist jetzt der Autor deines Lebens +++

Oder anders: Wir sind im Zweifel alle Verbrecher oder Terroristen - für wen auch immer. Wer alles unsere Leben mitliest, wissen wir nicht. Wir werden zu Daten in einem Datenstrom degradiert. Die Unschuldsvermutung - oder wie immer das juristische Pendant bei den Geheimdiensten heißt - ist faktisch abgeschafft. Knecht Ruprecht schreibt eifrig in sein rotes Büchlein mit. Ob er die richtigen erfasst, weiß man nicht. Waren es früher die Eltern, die den Text diktierten, so schreibt er nun selbst mit, wie er meint, dass das Leben der Beobachteten, also von uns allen, sei. Du Glücklicher, solltest du dein Leben wiedererkennen! 

+++ Der Staat als Beschützer der Bürger- und der Menschenrechte +++

Das Ganze ist übel. Steht keinem Rechtsstaat gut, der derlei Entwicklungen zulässt. Einer Demokratie erst recht nicht. Die Demokratie frisst ihre Kinder (frei nach einem bekannten Bild von Goya). Oder die Kinder fressen die Demokratie? Egal. Wie auch immer. Wenn nicht der Staat, was ist dann mit den Bürgern?
Selbst die FAZ fragt sich, weshalb die Bundesbürger so lethargisch auf die Warnmeldungen reagieren, die immer mehr ihre Grundrechte in Frage stellen. Sie nehmen es einfach hin. Und hinterher wollen die Deutschen es wieder nicht gewesen sein, die es zuließen. Die die Kehrtwende einfach hinnahmen hin zu einem immer restriktiver werdenden Staat. Überwachungsstaat. "Pssst, sieht ja keiner" scheint die Devise zu sein. Dabei kann ich die Verlockung sogar nachvollziehen, die ein Programm mitbringt wie XKeyScore. Aber Verlockung ist das eine, Rechtsordnung das andere. Und Demokratie sowie Rechtstaatlichkeit sind Güter, die gewahrt werden sollten.
Aber ist es noch der deutsche Staat? Sind es noch die USA? Großbritannien? Oder ist es doch die Wirtschaft? Bruce Schneier traut keinem mehr und fordert deshalb die Techniker auf, das Internet wiederzuerfinden. Ein beachtenswerter Aufruf. Ich denke unwillkürlich an den Beginn. Greatful Dead. Ihren Texter: Newt Gingrich. Hippiebewegung. San Francisco. Freiheit. Kalifornische Ideologie. Hach, was waren das für Zeiten: Mitte der Neunziger. Aufbruchstimmung! Mir wird sentimental ums Herz. Es war übrigens auch die Begründung sowie der Beginn des eCommerce. Und Schneier sorgte für neue Algorithmen zur Verschlüsselung. Blowfish. Twofish - diese Namen sollte man kennen, wenn man sich mit dem Netz aus dieser Zeit beschäftigt. Freie Software. Ja. So könnte es klappen, was Schneier möchte.
Wer also trägt die Verantwortung? Alles ist doch international. Die Kabel. Die Luft. Alle Transportwege des Digitalen: Sie beginnen hüben und enden drüben - wo immer das geopolitisch verortet werden mag. Was nützen da territoriale Zugeständnisse, wie auf dem Bundesgebiet seien die deutschen Gesetze eingehalten worden, wenn die Geografie keine Rolle mehr spielt? Die Daten der deutschen Internetnutzer können ebenso unterwegs, also auch im "Ausland" abgeschöpft werden. Und Telefongesellschaften sind längst international operierende Konzerne.
Eine Rückgewinnung der Technik wie Schneier sie fordert wäre wirklich ein enormes Ziel. Es müsste nur weltweit geschehen. Sysadmins, Programmierer und ITler vereinigt euch!? - müssen nichtmals. Sie müssen nur wachsam sein vor Ort. Ihr Wissen teilen, wo es nötig wird.
"Alles wird gut" wäre ja eine politische Kommunikation, die helfen würde, gäbe es denn sichtbare Entwicklungen in Richtung Rückgewinnung der bürgerlichen Rechte, die jedem verfassungsmäßig zugesagt sind - so sie uns denn verlustig gegangen sein sollten. Aber: Ruhe bewahren - bitte nicht vor den Wahlen. Da frage ich mich: Wann ist der richtige Zeitpunkt für Skandale dieses Ausmaßes? Es ist wie mit dem Schlussmachen - da gibt es ebenfalls nie den richtigen Augenblick. Das sind nur Ausreden des eigenen Zögerns. Der Schnüffelwahn der NSA ist zuviel für die Demokratien. Indirekt sagen das auch die Hubschrauber des Verfassungsschutz aus über Frankfurts Zentrale der NSA. Oder wollten die nur Spazierenfliegen?  

+++ NSA - die neue Religion? Opferkult oder bleibt sie lieb? +++

Die Allwissenheit der NSA wirkt beinhahe religiös. Auch wenn sie es nicht ist, so kann es ähnliche Auswirkungen haben, wie die in vielen Religionen zugeschriebene Eigenschaft Gottes. Ihre Allwissenheit ist eine schlechte Ohnendlichkeit. Jedenfalls sofern wir sie nicht stoppen. Tschuldigung - aber ich wurde im Studium mehrmals durch den sogenannten deutschen Idealismus gejagt, sodass diese auf Hegel anspielende Wortwahl mir gestattet werden dürfte. Zum Unterschied der Unendlichkeit besitzt diese einen Beginn. Sie fängt irgendwann an, während Gott vor Anbeginn der Zeit ohne eigenen Anfang und Ende da ist. So dürften die religiösen Gemüter beruhigt sein, wenn sie weiterlesen: Gott ist doch anders. Aber unser Umgang mit der NSA kann ähnliche Fehlentwicklungen zeigen, wie einige religiöse Formen.

+++ +++ Einschüchterung +++ +++ 

 "Die NSA sieht alles - sieh dich vor!", "Ich dachte, du hast aufgepasst!?" - das sind nur zwei Beispiele einer angstmachenden Sprache. Das allwissende Auge erfasst alles. Im religiösen Bereich wird es manchmal von einem der Elternteile gebraucht, um weniger die Gottesfurcht zu stärken, sondern mehr die eigene Macht über die Kinder zu erlangen. Gott als der für das Kind unerreichbare Große. Und die Eltern als die mit diesem Mächtigen Verbündeten. Die Eltern wissen meist nicht, dass so vorwiegend schwache Gemüter sprechen. Das ist mehr der Respekt der Straße als ein liebender Gott, den sie meinen.
Das Ziel ist klar: Um Ruhe zu haben. Besser die Kinder in Angst aufwachsen zu lassen als in den Händen eines liebenden Gottes - so denken sie. Gott befindet sich hier in einem stärker sado-maso-geprägten Setting. Kein Wunder, dass es dazu auch kommt in manchem religiös geführten Heim.
Einschüchterung ist nicht gut. Sie macht krank. Der Eingeschüchterte benimmt sich anders als er sich benehmen würde, wenn er denn ein Nichtbeobachteter wäre. Also haben wir dieser Tage eine Welt, die sich eingeschüchtert verhält. Alles nur noch Plastik. Die Angst vor Authentizität. Es sind nicht mehr einzelne Bevölkerungsgruppen in ihren Staaten, es - scheint zumindest so - um die ganze Welt zu gehen.
Nächstenliebe schafft keine Einschüchterung. Diese ist kein Weg, weil zu einseitig, da zu zentriert in Richtung Christentum. Aber ich möchte auch nicht, dass mich mein Staat umarmt. Da würde ich irgendwann rufen:"Bleib weg!" Das eint mich mit den Liberalen (auch wenn ich grün wähle).
Der Verzicht auf anlasslose Überwachung würde schon genügen. Ich dachte eigentlich auch, dass es in Deutschland ohne Anlass nicht erlaubt wäre. Unsere Regierung beruhigt uns derweil: Die Gesetze wurden eingehalten. Sie verraten aber nicht welche und wessen.
Ach, dann doch lieber Schneier. Die Techniker an den Schnittstellen Mut machen: An ihnen hängt jetzt alles!

+++ +++ Paranoia +++ +++

Zuviel dieser Allwissenheit kann zu Paranoia oder ähnlichen psychischen Erkrankungen führen. So wird eine Gesellschaft krank, deren sämtliche Alltagsbereiche überwacht werden. Verdrängung ist kein Ausweg. Eher nur ein weiterer Weg in eine weitere Sackgasse. Gut zureden, es sei alles in Ordnung, ist in meinen Augen verantwortungslos.

+++ +++ Der freie Wille des Menschen contra Allwissenheit Gottes? +++ +++

Wenn Gott alles weiß, warum lässt er alles Böse in der Welt zu? - so fragen die Gelehrten spätestens seit Leibniz. Wenn die NSA alles weiß, warum lässt sie dann allen Terrorismus und all die Verbrechen in der Welt zu? Während der Theologe spätesten jetzt mit dem freien Willen des Menschen antwortet, dass der Mensch auch die Wahl zum Übel besäße, anderenfalls wäre er nicht frei, weiß kein Mensch, was genau die NSA zur Freiheit aller Bürger in der Welt denkt. Denn sie scheint ja recht staatenübergreifend die Menschheit auszuspähen. 
Ist London wirklich gefahrenloser? Ist Boston verhindert worden? Nein. Auf Dauer wird die Situation des Überwachtwerdens immer gefährlicher. Und der Beobachter meint immer mehr Beobachtung haben zu müssen. Es ist wie eine Sucht. Und je fiktiver die Politik wird, umso ängstlicher wird die Politik vor Entdeckung. Fakten werden zu Gefahren. Im Laufe der Zeit wird die Überwachung zum selbstreferentiellen System: Es geht ihr immer mehr um den Erhalt der Überwachung selbst in ihrer Überwachung.

Der Wiederaufbau des Internets    

"Und?" fragt sie stolz den Finder, der nicht weiß, ob er jetzt aufatmen darf, nachdem er fertig ist mit lesen. Am liebsten hätte er jetzt eine Unterschlupf wie einer der verwilderten Köter. Dort einfach hineinkriechen und eine Woche die Welt nicht mehr wahrnehmen. Doch sie stellt ihn gefühlt auf den Marktplatz zur Schau. Nein, sie sind noch allein. Aber er nimmt sich so wahr. Alle schauen. Zumindest diese blinkenden Lichter. Von ihnen fühlt er sich angesehen. Beobachtet. Wenn sie doch wieder diese Decke darüber legen würde?
"Wir bauen das Internet auf Basis des Schneier IV wieder auf. Was meinst du? Das sind nicht die einzigen Rechner. Es gibt noch welche in Island ..." Unser Finder erschrickt. "Island? Du meinst doch hoffentlich ... also ... du nennst doch hoffentlich irgendwas im Raum Island, den Stuhl, oder ... den Schrank ... Du meinst doch nicht diese ... diese ... diese Insel? Du willst doch nicht etwas sagen, dass das Netzwerk immer noch weltweit verbunden ist, wenn auch in einem rudimentären Zustand?" - Sie sichtlich froh: "Ist doch genial, ne?" - "Und das ist jetzt ... an?" - "Jepp! Aber irgendwas stimmt da nicht ..." - "Wie?!?" - "Ja, ich muss da jetzt hinfahren - und ich dachte, du willst mich begleiten?" - Er nur so "Wie!?" - "Nur zum Schutz ..." - "Wie!?!" - "Sie, hach, nix Wildes. Ich glaube, da ist jemand hinter mir her." Er will wieder "wie" fragen, aber bringt keinen Ton  mehr hinaus.
In diesem Moment hören beide ein Dröhnen. "Schnell weg hier. Das sind Hubschrauber" -
Leider muss hier der Blogartikel schließen. Aber man kann es sich denken: Action, Rumgeschieße, ein unfreiwillig gewordener Held findet sich in einem Albtraum wieder, den er sich in seiner wildesten Phantasie hätte nicht vorstellen wollen. Unsere Aktivistin - wird sie es schaffen das Netz wieder in Ganz zu bringen? Ohne ihren Held an ihrer Seite sicherlich nicht. 

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