Der weinende Christus in uns!

© Markus Oberndörfer / pixelio.de

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Predigt am 13.03.2016

Vor kurzem sass ein Mädchen im Gottesdienst, sehr jung, sehr blond, sie stach heraus. Mal sah sie auf die Uhr ihres Smartphones, dann auf ihre Fingernägel; sie ließ den Blick gelangweilt durch die Kirche schweifen. Nichts hielt diesen Blick fest, nicht der Lektor, nicht die Blumen, nicht der Altar, nicht das Kreuz. Sie kaute mal spitz, mal breit ihren Kaugummi quer durch ihr hübsch geschminktes Gesicht. Eine aalglatte Maske, perfekt gerissen aus wasser- und tränenabweisendem Ölpapier. Ein Mädchen, dem die Zukunft gehört. Bei diesem Gedanken wurde mir angst und bange.

Was konnte dieses Mädchen noch erschüttern außer ein eingerissener Fingernagel oder eine ruinierte Frisur? Ich war ihr nicht böse, weil sie nicht gehorsam tat, was sich gehört und nicht ihr Gottesdienstgesicht aufsetzte. Mir wurde nicht bange bei der Vorstellung, dass sie jedem, der etwas von ihr verlangte, ihr „aber nicht ums Verrecken“ entgegen schleudern würde. Aber mich ängstigte die Vorstellung, sie könnte ein Mensch sein, der völlig eingeschlossen in seiner kleinen Welt lebt. Und nichts und niemand könnte sie dort mehr erreichen.

Vielleicht hatte sie einfach nur auf Durchzug gestellt, sodass der unablässige Strom von Bildern und Tönen in ihr Auge und Ohr hineinrutschte und dann durch sie hindurch. Die tägliche schrille Überdosis, der keine Aufmerksamkeit jemals gewachsen ist und welche gefühllos macht. Und jetzt in der Stille der Kirche konnte sie nicht einmal mehr horchen, selbst wenn sie wollte. Sie war längst erblindet und ertaubt und ihr Herz schlug nur noch für sich selber. Autismus als Überlebensstrategie.

Strategie fürs Leben! Nach einer Umfrage betrachten Zwei Drittel der Deutschen die biblischen Zehn Gebote als verbindlich für ihr tägliches Leben. Jeder Zweite kennt das Gebot “Du sollst nicht töten”. Mehr als ein Drittel der Befragten können die Gebote “Du sollst nicht stehlen” und “Du sollst nicht ehebrechen” nennen. Aber schon das dritte Gebot “Du sollst den Feiertag heiligen” ist nur noch fünf Prozent bekannt und damit kaum mehr im allgemeinen Bewusstsein vorhanden. Und doch verbindlich für ihr Leben?

Leben! Wer horcht noch in das Leben, um heraus zu finden, wie es gut und menschlich wäre? Wer betritt noch eine Kirche, ein Museum, ein Konzert oder gar die Gegenwart eines anderen Menschen und horcht, um heraus zu finden, wie er sich hier zu benehmen hätte? Uns ist nichts mehr selbstverständlich, man muss uns alles schriftlich und gesetzlich vorgeben, sonst wissen wir es nicht, sonst tun wir es nicht. Sonst kann man von uns keinen Gehorsam verlangen.

Gehorsam! Mir ist das Wort Gehorsam vom Predigttext im Ohr geblieben. Der Sohn Gottes hat Gehorsam gelernt.

Gehorsam kommt von Hören, nein intensiver, von Horchen. Gut möglich, dass der Sohn Gottes in seiner Herrlichkeit alles Mögliche um die Ohren hatte. So viel Herrlichkeit, dass sie seine Aufmerksamkeit ein paar Ewigkeiten lang gefesselt hätte. Und doch kam er auf die Welt und hat Hören gelernt.

Hören! Irgendwie unerhört, dass der Sohn Gottes noch etwas zu lernen hat. Doch kann es gut sein, dass Gottes durch ihn etwas Neues erfährt. Denn der Sohn Gottes hat Horchen gelernt an dem, was er litt. Als würde Gott sein Riesenohr nun nicht vom Himmel herab, sondern von ganz unten herauf an die Erde legen, um zu horchen. Um zu horchen auf jeden Seufzer, auf jeden Schrei, auf jeden Schmerz. Um zu hören, wer tatsächlich unerhört blieb: Die Verschleppten, die Vertriebenen, die Gefallenen, Gemordeten, Hingerichteten und die in namenlosen Gräbern oder im Ozean Verschwundenen – und auch all die Tränen in den stillen Kammern. All das geht Christus nicht in Augen und Ohren hinein und durch ihn hindurch, sondern mitten ins Herz. Sein Gesicht ist nicht aalglatt gerissen aus tränenabweisendem Ölpapier. Sein Gesicht kann bitten und flehen, schreien und weinen. Christus opfert Gott seine Tränen – und unsere.

Tränen! Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie (Lk 19/41). Jesus sah die Stadt Jerusalem und brach über sie in Tränen aus. Was gäbe es heute zu sagen über dieses geschundene Jerusalem und seine Umgebung, in der sich die Menschen in einer trostlosen Spirale der Gewalt schinden und umbringen – und was gäbe es zu sagen über Lybien, den Sudan, den Irak, über Afghanistan und Syrien. Die Welt ist schlecht, weiß der kaltherzige Achselzucker – damals wie heute in der Zeit der neuen, riesigen Flüchtlingsströme. Was geht ihn das an? Und wenn, dann kennt er einfache Lösungen – bis hin zu Stacheldraht und Gewehrkugeln gegen flüchtende Menschen. Jesus ist da etwas viel Besseres eingefallen als diese trostlose und widerwärtige Unmenschlichkeit: Jesus hat geweint. Er brachte diese Stadt und ihre Menschen in seinen Tränen vor Gott.

Und sein tränenreicher Fürbittendienst ist für uns alle. Das ist Fürbitte auf der höchsten Horchstufe des Herzens. Und er wird erhört, weil er Gott in Ehren hält. Denn ein horchendes Herz hält Gott in Ehren. Und wer sein Herz Gott ausschüttet, hält ihn auch in Ehren. Und bleibt eben nicht unerhört.

Genau deshalb werden wir bei unserer Taufe in Wasser getaucht. Damit wir nicht staubtrocken bleiben, bis das Ölpapier der Gleichgültigkeit unser Gesicht überzieht und unser Herz nur noch für sich selbst schlagen will. Bevor uns ein eingerissener Fingernagel und eine ruinierte Frisur mehr erschüttert, als die Not des Menschen nebenan – oder die des geschundenen Bruders in Syrien.

Denn da ist jemand, der über uns weint. Wir sollten wieder lernen, auf ihn zu horchen – auf den weinenden Christus in uns. Denn er hat in den Tagen seines irdischen Lebens nicht nur geholfen und Solidarität geübt, sondern eben auch mit lautem Schreien und mit Tränen zu dem gebetet und zu dem gefleht, der ihn vom Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt.

Weinen! Jammern sollen wir also? Neulich hat ein leitender Geistlicher gesagt, er freue sich über jeden, der gerade nicht jammert. Es ist inzwischen eine unsägliche Tradition in unserer Kirche: Lerne leiden, ohne zu klagen. Denn Klagen hilft dir nicht weiter. Eine komische Ansicht in einer Kirche, die doch eigentlich auf Gottes Hilfe vertrauen sollte – und sogar zynisch, wenn dann zB. der evangelische Beauftragte für die Seelsorge in der Bundespolizei, Bischof Karl-Hinrich Matzke, dafür plädiert, die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland zu begrenzen. Das sei nötig, um die Integration und Betreuung der Flüchtlinge gewährleisten zu können, sagte er. Zynisch und kaltherzig, oder? Denn eine Antwort auf die Frage, was mit denen geschehen soll, die aufgrund seiner geforderten Begrenzung dort bleiben müssen, wo sie verfolgt und verprügelt werden, wo sie hungern und frieren, gab er nicht. Sollen sie auch lernen zu leiden, ohne zu klagen? Damit die Anderen uns durch Betreuung und Integration nicht stören in unserer heilen europäischen Welt?

Keine Frage, es gibt auch ein anderes Jammern, eben das Jammern auf hohem Niveau, das Selbstmitleid, die Tränen aus berechnendem Kalkül. Aber wer wollte bestreiten, dass auch Christus in Gethsemane sein eigenes Leben, betrübt bis an den Tod, vor Gott brachte (Markus 14,34) und er erhört wurde. Es erschien ihm ein Engel vom Himmel und stärkte ihn (Lukas 22/43). Wir sollten also ganz vorsichtig sein, Bitten und Flehen, Schreien und Tränen als Jammern unter Generalverdacht zu stellen. Dies ist leider in der Kirche, aber auch in der Politik ein probates Mittel, die eigene Gleichgültigkeit, Hartherzigkeit und Ungerechtigkeit zu entschuldigen. Wer Not nicht abwenden kann – oder nicht abwenden will, der sollte denen, die darüber weinen und klagen, nicht den Mund verbieten. Wer Weinen und Klagen aus tiefer Not nicht hören will und kann, sollte weder in der Kirche noch in der Politik ein Amt bekleiden. Denn solche Menschen können nicht ins Leben hineinhorchen – sozusagen „dem Leben gehorchen“ – und nicht herausfinden, wie das Leben gut und menschlich wäre.

Menschlich! Das Horchen des Herzens ist zutiefst menschlich, denn es verändert die Not. Christus horcht gehorsam auf sein Herz. Und so gibt er allen Tränen die höchste Aufmerksamkeit, die sie haben können. Er bringt sie vor Gott.

Darum horchen auch wir – auf den weinenden Christus in uns.

“Der weinende Christus in uns”
(von Pfarrer Johannes Taig, Hospitalkirche Hof)

Ausgangspredigt

Photo: www.pixelio.de


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