Der Wahnwitz der Sterne

Der Verlust der Sterne

Der Verlust der Sterne

Letzte Woche habe ich in Irland den phantastischsten Sternenhimmel seit meiner Kindheit gesehen.

Es war Neumond, zwei Kilometer außerhalb eines kleinen westirischen Dorfs, auf freiem Feld, an einem Ort, wo es so dunkel war, wie es in Deutschland nirgendwo mehr wird.

Der Himmel war voll. Er quoll förmlich über vor Sternen, Schlieren und Nebeln. Die Milchstraße zog sich als leuchtendes Band quer über den Himmel. Binnen weniger Minuten sahen wir ein halbes Dutzend Sternschnuppen.

Das verblüffendste dabei: der Himmel wurde plastisch. Er wurde auf merkwürdige Weise dreidimensional – er bekam eine Räumlichkeit, die das Auge nicht mehr verstehen konnte. Es war ein wenig wie ein Hologramm: Die Nebel und Sternschwärme schienen sich nach vorne und hinten zu ziehen, sie schienen Schläuche, Röhren und Klumpen zu bilden, ohne dass man genau hätte sagen können, welche Struktur vorne, welche hinten ist. Die Räumlichkeit war natürlich eine Illusion: denn das Auge kann einen helleren, ferneren Stern nicht von einem schwächeren, näheren unterscheiden. Und doch war die Räumlichkeit auch Wirklichkeit, denn das Universum ist ja tatsächlich dreidimensional.

Diese halbillusionäre Plastizität ließ den Sternenhimmel nah und fern zugleich erscheinen. Einerseits gaukelt alles, was wir räumlich wahrnehmen, dem Auge Nähe vor. Da aber die Räumlichkeit unverständlich und ungreifbar blieb, verharrte der Sternenhimmel gleichzeitig in unendlicher Ferne.

In Mitteleuropa gibt es viele Menschen, die ein solch gleißendes, überbordendes Sternenzelt noch nie gesehen haben. Sie halten das hiesige flache, schüttere Muster von mehr oder weniger hellen Punkten für den Nachthimmel. Die wahre Phantastik und Komplexität des himmlischen Irrsinns bleibt ihnen verborgen. Die Elogen, die dem Sternenhimmel von mythischen Zeiten bis hin zu Kant gesungen wurden, bleiben ihnen unverständlich.

Noch vor zweihundert Jahren, als die einzigen nächtlichen Lichter Kerzen, Fackeln und Öllampen waren, gab es den leuchtenden, überquellenden Himmel immer und überall. Die Menschen wandelten jede Nacht unter einem Zauberzelt, das so fern und doch so nah war, unter dem sie sich, wie ich in Irland, unendlich klein und doch unendlich groß fühlen konnten – verloren und geborgen in einem. Die Klassiker haben, soweit ich weiß, für solche Erfahrungen die Kategorie des „Erhabenen“ geprägt.

Nun hat das „Erhabene“ heute – nicht zuletzt aufgrund seiner Beheimatung in der ungelenken Sprache des 18. Jahrhunderts – einen eher grotesken Klang, und in Berlin können wir mit etwas Glück gerade noch den Großen Wagen erkennen (eine grandiose Formation übrigens, die in Irland den gesamten westlichen Horizont überstrahlte). Vier oder fünf Sterne sind vom Nachthimmel übriggeblieben. Es wäre naiv zu glauben, dass das keine Auswirkungen auf das menschliche Leben, auf unser Empfinden, unsere Erfahrungswelt, unsere Sehnsüchte, unsere Kultur und unsere Kunst hätte.

In einer Zeit, wo fast pünktlich zum 100jährigen Jubiläum der Neuen Sachlichkeit „Diesseitigkeit“ als Schlagwort vorgeblich progressiver Kunst herhalten muss, täte ein Blick auf den Wahnwitz des Sternenhimmels gut, um der Kunst wirklich neue, ungeahnte, phantastische und revolutionäre Wege zu erschließen.


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