Der Moment des Erkennens (6)

Die Wohnung war leer und Nick spürte das Gefühl von Einsamkeit in sich aufsteigen. Er schloss die Türe und verriegelte das Kettenschloss. Das Licht ließ er bewusst ausgeschaltet. Seine Art die Dinge in seinem Kopf ins Reine zu bekommen war eine Methode die er sich in den Jahren in denen er alleine wohnte angeeignet hatte. Langsam sank er an der Wand nach unten, sie fühlte sich kalt und fest an. Als er am Boden saß und nichts um sich erkennen konnte, schloss er die Augen und fing an sich den Tag noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Doch er war einfach zu müde und seine Augenlider wurden immer schwerer und schwerer. Er schlief ein.
Laute Musik ließ ihn aufschrecken. Der Geruch von Alkohol, Zigarettenrauch und Exkrementen stieg ihm in die Nase und ihm wurde schlagartig übel. Sein Blick blieb an einem länglichen Lichtschein hängen der kurz aufleuchtete doch im nächsten Augenblick wieder erlosch. Erst jetzt bemerkte das er auf dem Boden lag und seine Beine langsam feucht wurden. Beim Versuch sich aufzusetzen rutschte er auf dem feuchten Untergrund auf und fiel der Länge nach wieder hin.
Ein Schmerzensschrei verlies seine Lippen. Er musste betrunken sein und sein sofort einsetzender Kopfschmerz gab ihm die Zustimmung. Der Lichtschein kam zurück und leise Stimmen riefen ob alles in Ordnung sei. Ein Rütteln war zu hören und Nick wurde klar, das er sich in einem verschlossenen Raum befand. Eine Toilette.
„Alles in Ordnung, danke“, rief er nach draußen um die Stimmen zu beruhigen. Es musste sich mindestens um zwei Personen handeln, doch sicher war er sich nicht. Der erneute Versuch aufzustehen gelang und er tastete nach dem Türgriff. Alles was er wollte war von diesem stinkenden, dunklen Ort zu verschwinden. Nichts. Kein Türgriff. Sofort stieg Angst in ihm auf und er konnte sich ohrfeigen nicht doch um Hilfe gebeten zu haben. Es musste doch etwas geben um von hier nach draußen zu gelangen, schoss ihm durch den Kopf. Schon war er wieder dabei die leere Fläche vor ihm zu untersuchen. Und siehe da, ein kleiner Riegel verschloss die Türe. Er bewegte ihn und wurde von einem enormen Lichtkegel buchstäblich umgehauen, als er die Türe aufzog. Es dauerte einen Moment, ehe er seine Umgebung wahrnehmen konnte. Ihm fiel sprichwörtlich ein Stein vom Herzen als er bemerkte wo er sich befand. Er stand auf der Toilette seiner Stammkneipe. Etliche Male war er schon hier gewesen um sich gewissen Dingen entledigen zu können, doch keines dieser Male war er auf der Toilette gewesen in der er sich eben noch befunden hatte. Die Türe wurde geöffnet und ein junger Typ in schwarzem Anzug betrat den Raum. Der Blick des Mannes ließ Nick erkennen, dass er mindestens genauso betrunken war wie er selbst. Unsicheren Schrittes begab sich dieser in Richtung der Pissoirs. Ein erleichterndes Seufzen kam von dort herüber zu ihm.
„Du bist doch der Bulle oder?“, hörte Nick ihn belustigt sagen.
„Denke schon, aber warum weißt du wer ich bin?“
Der Typ machte seine Hose zu, drehte sich zu Nick um und sah ihn grinsend  an. Seine Augen musterten ihn, langsam ging der Blick von oben nach unten und wieder nach oben.
„Ich dachte mir gerade was ein Bulle wie sie hier auf einer Toilette wie dieser macht. Und noch dazu in nassen Hosen.“
Nick erschrak und sah an sich herab. Seine Hose hatte er total vergessen, sie war total durchnässt. Schließlich war er auf dem Boden einer Kneipentoilette gelegen, wer weiß wie lange. Alles an was er sich aus dem College behalten hatte war seine Schlagfertigkeit und so antwortete er mit einem ebenso schadenfreudigen Grinsen,
„Handelt sich um eine geheime Untersuchung. Auftraggeber Levi`s. Mehr kann ich Ihnen leider nicht verraten.“
Der Mann grinste ihn an und verschwand ohne ein weiteres Wort durch die Türe. Nick stellte sich vor, wie absurd das ausgesehen haben musste, als er wie ein Junkie aus der Toilette kam. Im nächsten Moment wurde ihm klar, was das für Folgen haben könnte, wenn der Mann ihn tatsächlich als Junkie ansehen würde und seine Klappe nicht halten konnte. Nicht das es stimmte, aber schlechte Mundpropaganda waren für niemanden gut. Schon gar nicht für einen Polizeibeamten. Schweren Schrittes machte er sich daraufhin auf die Toilette zu verlassen, blieb aber an dem Spiegel hängen, welcher neben der Türe hing. Sollte er wirklich so wie er aussah in die Öffentlichkeit treten? Es war mal wieder das Engel und Teufel Spiel das ihn beherrschte. Engel sagt, nein klettere lieber durch das Fenster und verschwinde spurlos ohne einen schlechten Eindruck zu hinterlassen. Teufel dagegen, ach was, als ob einen Typen wie dich eine nasse Hose abhalten würde noch ein Bier zu nehmen. Es war also nicht einfach für ihn eine Entscheidung zu treffen. Noch dazu in seinem Zustand. Abwägend und unentschlossen stand er da und musste wirklich lächerlich ausgesehen haben, als ein erneuter Gast die Toilette betrat. Diesmal war es ein Mann mit der Schnauze eines Habichts. Ein Hüne mit breiten Schulter und den Armen eines Arnold Schwarzeneggers in seinen besten Zeiten. Nick drehte sich zur Wand und hoffte er würde ihn nicht beachten. Doch sofort kam er sich bescheuert vor und ging durch die Türe in die Bar zurück. Die Musik war ohrenbetäubend laut. Ein Song der wohl vor 25 Jahren in der Hitliste der ganz Großen dabei gewesen sein musste, dachte Nick und machte es sich auf einem Barhocker bequem. Der Wirt, der heute Dienst hatte, kannte Nick schon eine lange Zeit. Damals waren sie beide in diverse Fälle verwickelt. Kneipenschlägereien, Drogenhandel, Hehlerei. Die Kneipe war und ist an manchen Tagen immer noch ein Heim für jegliche Art von Kriminellen. Deshalb fühlte sich Nick auch vielleicht so wohl hier. Er war der Bulle, doch niemand sah ihn als diesen an. Er war ein Gast wie jeder andere auch. Nur mit der Ausbildung als Polizist. Seine Präsenz gab dem Betreiber ein gutes Gefühl, ein Gefühl der Sicherheit. Und Nick nutzte es in keiner Weise aus. Er sah den Abend oder die Nacht als Nachhilfe oder Erfahrungssteigerung an um die wirklich bösen Buben auch im normalen Leben zu erkennen.
„Ich nehm noch ein Bier!“, schrie er in Richtung des Wirtes.
Als dieser in sah, kam er heran und beugte sich über die Bar, bis an Nick`s Ohr. Er fragte ihn ob es ihm wieder gut ginge und ob er sich auf der Toilette einnisten wollte. Es wären mindestens zwei Stunden gewesen, die er darin verbracht hatte. Als Nick das hörte, versuchte er sich an die letzten zwei Stunden zu erinnern, brachte es aber nicht fertig über sein Aufwachen in der Pfütze hinaus. Was war mit ihm geschehen? Hatte er etwa so viel getrunken, dass sein Gehirn streikte ihm seine letzten Erinnerungen preiszugeben? Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen und fragte den Wirt mit einer Vermutung, die ihn bereits beänstigte, noch bevor er die Frage stellte.
„War ich alleine hier?“
Es musste wirklich lächerlich geklungen haben, aber ein Wirt wie er, in einer Kneipe wie dieser hatte schon einige Fragen gestellt bekommen. Da wird seine eine der harmlosesten sein. Zumindest dachte er das.
„Naja, alleine ist nicht richtig ausgedrückt. Du warst bevor du auf die Toilette gerannt bist mit einer jungen Dame hier. Ein wirklich hübsches Ding. Du hast den letzten Whiskey wohl nicht vertragen.“ Er lächelte zu Nick und hatte einen leichten Ausdruck von Schadenfreude im Gesicht.
Er war also mit einer hübschen Dame hier gewesen. Seine Erinnerungen waren wie weggeblasen. So etwas war ihm noch nie passiert. Nicht nach einem Whiskey. Und erst Recht nicht, wenn er in Begleitung war. Wenn er seinen Abend wieder in sein Gedächtnis rufen wollte, musste er den Wirt fragen. Es lähmte ihn ein bisschen eine solche Demut auf sich zu nehmen, aber seine Neugierde war größer als jegliche Art von Schmach.
„Tut mir leid, aber ich kann mich gerade an nichts mehr erinnern. Kannst du meinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen?“, fragte er den Wirt und hatte ein mulmiges Gefühl, das sich in der Magengegend ausbreitete.
Es musste schon spät gewesen sein, denn außer dem Hünen, den er auf der Toilette getroffen hatte und ihm war kein Gast mehr anwesend. Der Hüne saß auf einen Stuhl, der an der anderen Seite der Bar stand. Mit einem kurzen Zögern und einer anschließenden Frage an den Hünen, welche soviel sagen musste, wie ob er noch etwas wolle, kam er zu Nick und lehnte sich zu ihm hinüber.
„Du bist vor ungefähr drei Stunden hier hereingestürmt, hast etwas zu Trinken für dich und die Lady bestellt und hast dich anschließen mit ihr an einer der Tische dort hinten gesetzt. Nicht das ich meine Gäste ausspionieren würde oder so, aber ihr habt euch wirklich angeregt unterhalten. Irgendwann bist du dann mit ihr auf die Toilette gegangen und warst verschwunden. Nach ungefähr einer halben Stunde kam sie wieder heraus und ist gegangen. Ich hab mir dann meinen Teil gedacht, es aber dabei belassen. Will dir ja nicht in deine Angelegenheiten pfuschen. Und wie gesagt, du warst dann noch ungefähr zwei Stunden da drin. Mehr weiß ich auch nicht.“
Er sollte mit dieser hübschen Lady eine halbe Stunde auf der Toilette verbracht haben und wusste nichts mehr davon? Irgendwie kam Nick die Geschichte spanisch vor, zweifelte aber nicht an der Wahrheit des Wirtes. Sein Gehirn spielte bloß nicht mit.
„Hast du schon mal deine Taschen geprüft, vielleicht war das ja eine dieser Frauen, die sich mit Männern verabredet und sie dann ausraubt. Heutzutage kann man nicht mal mehr in Ruhe ein Nümmerchen auf der Toilette schieben.“ Er lachte laut auf und fing an Gläser zu spülen.
Auf diese Idee ist Nick noch nicht mal gekommen und durchsuchte seine Taschen. Handy, Geldbeutel, Schlüssel. Eigentlich war alles da. Doch dann überkam ihn ein Schauder. Sein Notizbuch war weg. Aber vielleicht lag es ja noch in der Toilette. Es musste ihm rausgefallen sein. Mit schnellem Schritt ging er durch die Türe und durchsuchte den ganzen Raum samt den einzelnen Toiletten. Nichts. Kein Notizbuch lag durchnässt auf dem Boden. Selbst das hätte ihn jetzt nicht schocken können. Aber warum sollte jemand sein Notizbuch stehlen? Und noch dazu eine angeblich so hübsche Dame. Er kam zu keinem Entschluss und wollte nicht länger tatenlos an der Bar sitzen also bezahlte er seine Getränke und verabschiedete sich bei dem Wirt mit einem dankenden Blick.
Ihn fröstelte, als er an die frische Luft trat. Die Türe fiel leise ins Schloss und die Stadt war auf einmal totenstill. Seine Füße setzten sich in Bewegung und er musste sich  immer wieder umsehen, er hatte ständig das Gefühl beobachtet und verfolgt zu werden. Nachts in dieser Stadt durch die Straßen zu laufen war ihm noch nie geheuer gewesen, aber keine Menschenseele war unterwegs. Er war vollkommen alleine. Keine Kleinkriminellen Jugendlichen, die ihm die Schuhe ausziehen wollten, kein knutschendes Liebespaar auf der Brücke und noch nicht mal ein Hund oder eine Katze, die seinen Weg kreuzten. Schnellen Schrittes ging er voran und übersah beinahe den Mann, der am Brückengeländer stand und nach unten sah. Auf der anderen Seite.
-

Die Tür des Wagens öffnete sich und ein Junge kam heraus. Er hatte hellblondes Haar, eine Mähne die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Sein Blick verriet nichts gutes zu verheißen und war auf ihn gerichtet. Mit raschen und sicheren Schritten kam er auf ihn zu. In seinem Bund waren eindeutig die Ausbeulungen einer Waffe zu erkennen. Vermutlich eine Pistole. Seine rechte Hand griff nach dieser, als er ungefähr noch zehn Meter von ihm entfernt war. Der Klang des zurückziehenden Abzugs erreichte sein Ohr. Anschließend der ohrenbetäubende Knall der Kugel im Lauf. PENG!
Erschrocken wachte Sam auf. Er musste eingeschlafen sein. Langsam kamen die Erinnerungen an die letzten Stunden zurück. Er hatte die Frau ermordet, wäre fast von ihrem Geliebten erwischt worden, hatte die Leiche in den Kofferraum seines Wagens gepackt und war hier raus gefahren. An den See. Bei Nacht sah dieser eher aus wie ein Ölspeicher der sich mitten im Wald befindet, dachte er bei sich. Pechschwarz und annähernd dickflüssig lag er vor ihm. Die Standheizung seines Wagens war ausgefallen als er geschlafen haben musste, denn ein eisiger Zugwind zog ihm um die Nase und ließ ihn erschauern. Mit schnellen Fingern schaltete er diese wieder auf hot und atmete erleichtert auf, als sich ein wohlig warmes Gefühl um seine Beingegend breit machte. Um diese Uhrzeit und zu diesen Temperaturen jetzt da raus zu gehen um eine Leiche in diesem stinkenden Tümpel zu beerdigen, ließ ihn auf seinen Sitz zurücksinken. Es hatte noch ein paar Minuten Zeit. Niemand stresste ihn oder sagte ihm was er zu tun hatte. Einzig und alleine er war der Macher in diesem Spiel. Niemand sonst war eingeladen mitzuspielen. Spiel des Lebens hatte auf einmal eine völlig andere Bedeutung für ihn gewonnen, wenn er so über den Vorfall nachdachte. Und irgendwie hatte es ihm sogar Spaß gemacht. Für das erste Mal war es ein relativ kurzes Vergnügen, aber war das nicht bei den anderen ersten Malen meist genauso der Fall? Niemand gab ihm ein Lob oder eine Kritik für sein Tun, einzig er alleine war der Richter und der Angeklagte, also fragte er sich selbst, was für eine Bewertung man ihm geben würde. Reichliches Diskutieren war nicht nötig, der Richter hatte sich auf eine mittelmäßige Bewertung geeinigt und verkündete sie ihm in waghalsigem Tonfall. Der Grund dafür waren erstens die kurze Zeit und zweitens der brutale Todesstoß. Beim nächsten Mal, da war er sich sicher, musste das alles geplanter ablaufen. Keine Effekt Handlungen mehr. Er stellte bereits in Gedanken einen Plan auf wie er die Leiche jetzt los wurde und stieg aus dem Wagen. Es drängte ihn dazu weiterzumachen. Was es genau war, wusste er nicht, aber er wusste, dass es weitergehen musste. Also nahm er die Leiche, hob sie aus seinem Kofferraum und brachte sie an das Ende des alten Stegs. Mit einem lauten Aufschlag ließ er sie fallen. Wenn er sie einfach so in das Wasser werfen würde, würden die Leichengase sie wieder an die Oberfläche kommen lassen, also musste er sie an einen Stein binden um ihr Gewicht zu beschweren. Das war ein leichtes, denn das Ufer des Tümpels bestand aus großen Steinbrocken, die vor langer Zeit einmal bestimmt schön ausgesehen haben. Damals, als noch Wasser darin war und vielleicht sogar Fische einen Lebensraum hatten. Jetzt war es jedoch mehr ein modriges, altes Gewässer geworden und selbst wenn Fische darin leben würden, könnten sie einem Menschen einen Arm ausreißen, so mutiert mussten diese sein. Mit schweren Schritten und einem angestrengten Blick schleppte er den Stein heran. Als Zwischenstück entschied er sich für sein altes Überbrückungskabel, es war dünn genug um es zu knoten und war sowieso seit Jahren kaputt. Den Knoten hatte er schnell gewählt. Einen sogenannten Galgenknoten. Dieser wird enger und zieht sich fest, wenn man das untere Ende beschwert. Manche nennen ihn auch den Henkersknoten, weil ihn der Henker benutzt hat um seine Kunden zu erwürgen. Steckt man seinen Kopf durch die Schlinge und springt von einem erhöhten Objekt in die Tiefe, wird entweder dein Genick gebrochen oder du erstickst langsam. Samuel mochte diesen Gedanken. Es brachte ihn dazu und wuchs von Gedanke zu Gedanke ein bisschen mehr heran. Er konnte nichts dagegen tun.

-

Es war als würde die Luft verschwinden. Der Sauerstoff knapp werden. Die Atemwege gefrieren. Sein Körper wurde steif und regungslos. Noch nie hatte Nick einem solchen Moment die Stirn bieten müssen und bei Gott, er hatte es nicht darauf angelegt es jemals tun zu müssen. Mit keuchendem Atem stand der Mann an der Brüstung des Geländers. Sein Körper war leicht vornüber gebeugt und seine Finger umschlossen es mit eiskalten Fingern. Niemand war zu sehen. Alleine er und Nick befanden sich um diese Zeit auf der Brücke. Ein Urinstinkt machte sich breit, der verursachte das er etwas tun musste. Doch was in aller Welt war in einer Situation wie dieser das Richtige? In psychologischen Anwendungsmustern war er nie gut gewesen. Sollte er seine Hilfe anbieten oder einfach nur langsam hinter ihn schleichen und ihn aus der Gefahrenzone ziehen? Im Grunde wusste er nichts und alles zugleich, er musste etwas tun, egal was, aber er konnte nicht einfach zusehen wie sich ein Mensch vor seinen Augen in den Tod stürzen will. Seine Beine fingen an sich zu bewegen. Nichts in ihm gab ihnen den Befehl dazu, aber sie taten es. Ein Luftzug der von der anderen Seite der Brücke kam durchbohrte ihn. Es musste eine himmlische Eingebung gewesen sein, denn der Mann sah im selben Augenblick zu ihm herüber.
„Versuchen Sie es erst gar nicht mich aufzuhalten!“, schrie er Nick an. Seine Augen waren mit purer Angst und gleichzeitig mit absoluter Entschlossenheit erfüllt. Durch die plötzliche Reaktion des Mannes hatte Nick seine Gedanken wieder im Griff und entgegnete diesem mit einem lauten, aber besänftigtem Ton:
„Selbstmord ist das letzte was einem helfen kann, glauben Sie mir. Niemand hat jemals aus einem Selbstmord lernen können, denn keiner hat ihn überlebt. Vielleicht löst es einige Probleme die man hat, aber will man sein einziges Leben auf der Erde wirklich aufgeben und von einer Brücke wie dieser springen? Ich an ihrer Stelle würde zurück ins Leben steigen. Es ist nicht weit. Sie müssen nur zurück über das Geländer und von vorne beginnen. Glauben Sie mir, ich kann Ihnen helfen.“
Ob seine Worte dem Mann wirklich helfen konnten, wusste Nick nicht, aber seine Worte waren alles was er für ihn tun konnte. Sein Leben war beim besten Willen nicht das was er sich erträumt hatte, aber sich selbst umzubringen kam ihm noch nie in den Sinn. Dafür gab es zu viele Möglichkeiten sich seiner Sorgen zu entledigen. Langsam schritt er auf den Mann, der noch immer seine Augen starr der kleinen Straße unter der Brücke widmete, zu. Behutsam stellte er sich ihn und steckte sich eine Zigarette an.
„Lassen Sie sich helfen und machen Sie nicht den Fehler ihres Lebens.“, sagte er ruhig.
„Sie wissen doch gar nichts über mich. Sie wissen nicht, dass ich meine große Liebe und meinen Job verloren habe. Alles an einem Tag. Warum sollte man denn noch weiterleben, wenn es nichts mehr gibt, für das es sich zu leben lohnt.“
Im nächsten Moment sah Nick wie sich der Griff des Mannes langsam löste und packte ihn an den Schultern. Mit einem kräftigen Zug und ohne Rücksicht auf eventuelle Verletzungen die ihm zugefügt werden könnte, riss er ihn über das Geländer zurück auf die Straße der Brücke. Der Aufprall des Mannes ließ ihn seine Augen zusammen zucken, doch im nächsten Moment sah er ihn, wie er weinend am Boden lag und sich das Gesicht hielt.
„Es ist geschafft.“, sagte Nick und versuchte zu lächeln. Sein ganzer Körper zitterte und war voller Adrenalin. Er fühlte sich, als hätte er eine komplette Kanne Kaffee getrunken. Hellwach war kein Ausdruck für das Gefühl, welches er gerade empfand. Vor nicht einmal zehn Sekunden hatte er, Nick Dover, einem wildfremden Mann das Leben gerettet. Ihn buchstäblich zurück ins Leben gezogen.
Vorsichtig versuchte er dem Mann aufzuhelfen. Ihre Hände berührten sich und Nick empfand ein Gefühl des Glücks das im Augenblick nur schwer zu beschreiben war. Mit einem Ruck stand er nun vor ihm. In Sicherheit und mit einem Ausdruck auf dem Gesicht, der Nick zweifeln ließ, ob er alles richtig gemacht hatte.
„In dem Moment in dem ich über das Geländer zurückgeflogen bin, hatte ich das Gefühl ein Engel würde mich bewegen. Mir eine zweite Chance geben. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken kann. Wenn ich gesprungen wäre…“, er verfiel in eine Art Trance und fing erneut an zu weinen. Seine Tränen tropften auf das kalte Kopfsteinpflaster der Brücke und hinterließen große dunkle Flecken. Erst jetzt konnte Nick die Gestalt des Mannes erkennen. Komischerweise war ihm vorher nichts an ihm aufgefallen. Jetzt aber konnte er nicht mehr wegsehen. Es war, als würde eine unsichtbare Hand seinen Kopf in seine Richtung lenken und nicht mehr loslassen. Die Größe des Mannes war beachtlich. Er musste mit eingebeugten Knien am Geländer gestanden haben, denn wenn er jetzt so vor ihm stand, hatte Nick trotz seiner 1,84m das Gefühl ein Winzling zu sein. Der Mann musste knappe zwei Meter groß sein. Außerdem war er mit einem äußerst gut gebauten Körper ausgestattet. Sein Oberteil lag straff über seinem Körper und zeigte deutliche Ausbeulungen der Muskeln an Brust und Oberarmen. Wie hatte er es nur geschafft einen solchen Koloss über das Geländer zu ziehen? Und das auch noch mit einem solchen Schwung. Unbegreiflich und völlig verwirrt stand er jetzt vor dem Mann und starrte ihn an.
„Darf ich mich vorstellen, mein Name ist Henry White.“
„Nick Dover. Angenehm.“
„Wenn Sie nicht gewesen wären Nick Dover, würde ich jetzt da unten liegen.“ Mit einem unsicheren Blick, der eher aussah, als würde ein Hund seinen ersten Haufen setzen, sah Henry nach unten. Sofort wich er aber wieder zurück und fuhr fort.
„Wie ich schon gesagt habe, wie kann ich Ihnen danken?“
Ein Schluckreiz machte sich in Nick`s Hals breit und verursachte ein drucksendes Geräusch als er zeitgleich versuchte zu antworten.
„Sie können mir danken indem Sie mir versprechen ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen und nicht morgen wieder den Faden verloren haben. Glauben Sie an sich und lassen Sie sich nicht von Schwierigkeiten soweit bringen sich selbst umzubringen. Wenn Sie mir das wirklich versprechen, ist mir Dank genug getan.“
Jetzt musste er wirklich schlucken.
Es dauerte keine Sekunde nachdem er das letzte Wort gesprochen hatte, schon lag ihm Henry um den Hals. Er drückte ihn so fest er nur konnte und Nick hatte für einen kurzen Moment das Gefühl ihm würde eine Rippe gebrochen. Ihm entwich ein Stöhnen und Henry wich erschrocken zurück.
„Habe ich Ihnen wehgetan? Ich konnte nicht anders, tut mir leid. Wie dankbar ich Ihnen bin, kann ich einfach nicht in Worte fassen, also musste ich es zeigen.“
Lächelnd wartete er auf eine Antwort die prompt zurück kam.
„Machen Sie sich bitte keine Sorgen um mich, auf dieser Brücke sind heute Nacht schon genug davon umher geflogen.“, witzelte Nick mit einem leichten Grinsen auf dem Gesicht.
„Soll ich sie noch nach Hause bringen?“, fragte er im Anschluss.
„Ich finde schon nach Hause, aber vielen vielen Dank der Nachfrage. Kommen Sie bitte einfach gut nach Hause. Ich könnte wetten, sie packen Ihre Flügel aus und fliegen davon sobald ich außer Sichtweite bin.“
Nick musste lachen. Das war der Moment in dem er gehen sollte. Ein letztes Winken und der Hinweis, man sähe sich immer zweimal im Leben war das letzte was er heute noch sagen würde. Zustimmend und voller neuer Lebensfreude winkte ihm Henry immer noch nach, als er in die dunkle Gasse einbog, die ihn direkt vor seine Haustüre führte.



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