Der Kapo

DAS SED REGIME. NICHT NUR EINE KOPIE DES ROTEN VORBILDES. NEIN. AUCH DAS BRAUNE WURDE OFT UND GERN KOPIERT.
Vincent Deeg
Matthias erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem Jürgen vom Zugang zu ihnen auf die politische Station kam. Als dieser etwa vierzig Jahre alte Mann ihm und den anderen Gefangenen erzählte, dass er die Kommunisten hasse wie die Pest und darum eine DDR Fahne verbrannte. Er erinnerte sich auch daran, wie sie diesen Mann mit offenen Armen in ihren Kreis aufnahmen, gemeinsam mit ihm an einem Tisch saßen und bei ein paar Hansa Keksen und einer braunen Plastiktasse voller Tee über alte Geschichten lachten oder über ihre Geheimnisse sprachen. Und daran, wie sie ihm das Leben im Knast erklärten und wie sie ihn bis zu dem Tag, an dem er sein erstes Geld bekam, dass er wie alle Gefangenen in den Werkhallen des Gefängnisses verdiente mit alle möglichen Dingen, wie zum Beispiel Tabak und Tee versorgten.
Und nun. Nun war es genau dieser Jürgen, der, als wäre er etwas viel Besseres, während der täglichen Zählung arrogant und hochnäsig an den, in zwei langen Reihen aufgestellten Gefangenen entlang schritt und sie, vielleicht weil sie es gewagt hatten, heimlich mit ihrem Nebenmann zu reden, weil sie nicht, was bei diesem Mann vieles bedeuten konnte seinen optischen Vorstellungen entsprachen oder auch nur, weil er sie mochte, wütend anschrie oder grob nach hinten stieß.
Es war derselbe Mann, der nach dem allabendlichen Einschluss in die leeren Tagesräume ging und die in ihren Schlafräumen eingeschlossen Gefangenen bestahl. Derselbe Mann, der sich einen Spaß daraus machte, sogar am Tage bei den Gefangenen zu erscheinen, um sich frech grinsend und ohne Gegenwehr bei dem Wenigen zu bedienen, das diese
besaßen.
Ein Beispiel dafür war der Zahltag. Der Tag, an dem ein jeder Gefängnisinsasse seinen kläglichen Sklavenlohn erhielt und an dem sich, je nach dessen Höhe, jeder beim Einkauf mit neuem Tabak, Tee, Kekse, Zucker, Senf und all den anderen wenigen Dingen eindeckt, die man in einem DDR Gefängnis bekommen konnte. Oder nehmen wir beispielsweise den Sprecher*. Der Tag, an dem es dem einen oder andere Gefangene, der nicht oder nur wenig negativ aufgefallen war, was verständlicher Weise für einen politischen Gefangenen relativ schwer bis unmöglich war, ein Besuch seiner Angehörigen gestattet wurde. Auch dann erschien dieser Mann regelmäßig, um sich wie immer dreist an dem Obst, dem Gebäck, den Tabak und Süsswaren, den Hygieneartikeln und an all den anderen Dingen zu bedienen, die diesem Gefangenen von seinen Angehörigen ins Gefängnis mitgebracht wurden.
Doch warum wehrte sich niemand gegen diesen Tyrannen, der doch eigentlich einer von ihnen war? Warum ließ man sich gefallen, dass dieser Mann beinahe alle Pakete, die in das Gefängnis kamen und die ihm zur Weitergabe überreicht wurden plünderte, bevor er sie an die Empfänger aushändigte? Dass er regelmäßig politischen Gefangenen, die er durch um sich gescharrte Kleinkriminelle, die ebenfalls auf dieser Station eingesperrt waren auszuspionieren ließ bei der Gefängnisleitung oder der Stasi denunzierte.
Warum ließ man sich gefallen, dass derselbe Mann, dem sie in den ersten Tagen bei der unmenschlich schweren Arbeit in den Gefängniswerkhalle geholfen hatten sie dort aus Spaß immer wieder drangsalierte oder um sie, ebenfalls aus Spaß im Anschluss daran in den zweiwöchigen Arrest zu schicken sabotierte?
*
Warum wehrte sich niemand?
Eine Generalfrage, die nicht leicht zu beantworten ist. Und doch will ich es versuchen.
Bevor ich dies jedoch tue, sei klar gestellt, dass dieser Jürgen keines Falles einer von uns war. Eine Erkenntnis, die Martin, ein späterer Zugang brachte. Der Gefangener, der den wahren Jürgen nicht nur aus seiner Heimatstadt kannte, sondern der diesen Mann, als er ihn sah, auch ins richtige Licht stellte.
In das Licht, in dem der von Körperhygiene nichts haltende Alkoholiker Jürgen, der sich vor jeder Arbeit drückte, sich mit kleinen Lauben und Ladendiebstählen und dem Sammeln von Pfandflaschen über Wasser hielt nur als wieder einmal betrunkener Zuschauer dabei stand und zu sah, wie einer seiner ebenso gearteten Saufkumpane eine klein DDR Fahne aus Papier mit seinem Feuerzeug anzündete.
Eine Tat, die, auch wenn man davon ausgehen kann, dass es diesen Saufbrüdern damals mit Sicherheit nicht um ein Aufbegehren gegen den Staat ging, ohne jeden Zweifel eine politische Handlung darstellte und die sich Jürgen im Gefängnis, dort, wo ihn, zumindest bis Martins Eintreffen niemand kannte zunutze machte. War es doch in den meisten Fällen so, dass ein politischen Gefangener unter den anderen Insassen ein weit aus höheres Ansehen genoss, als jemand, der als einfacher Krimineller eingesperrt wurde.
*
Und nun zur Beantwortung der Generalfrage.
Warum wehrte sich niemand gegen diesen Mann?
Ich nehme mal an, dass es unter meinen Lesern einige gibt, die diese Frage ganz allein beantworten können. Für die anderen tu ich es jetzt.
Einen Teil der Antwort auf diese Frage finden wir, wenn wir uns die Geschichte, speziell die der letzten achtzig Jahre einmal genauer ansehen. Wenn wir das Prinzip betrachten, dessen man sich bereits während des NS Regimes bediente. Das Prinzip, in dem man kriminelle Gefangene als privilegierte Kapos anheuerte, um mit Hilfe dieses willigen und in der Regel absolut skrupellosen Werkzeuges die in den unzähligen Konzentrationslagern eingesperrten politischen Gefangenen zu terrorisieren.
Ein unmenschliches Prinzip, das seine Wirkung in den meisten Fälle nicht verfehlte und das das SED Regime nach dem Untergang des NS Regimes einfach 1 zu 1 kopierte.
Dies bedeutet also, dass Jürgen genau das war, was man in einem Konzentrationslagern einen Kapo genannt hatte. Ein gewöhnlicher Krimineller, den man zwar nicht mehr als solchen, sondern offiziell als Brigadier und inoffiziell als Bridger bezeichnete, dessen gleichermaßen honorierte Aufgaben jedoch dieselben waren, wie schon die seiner Vorbilder von damals. Aufgaben, zu denen unteranderem auch das Tyrannisieren, also das systematische Brechen der politischen Gefangenen gehörte.
Ein charakterschwacher Mann also, der sich seines eigenen Vorteiles wegen an die Stasi und an die Gefängnisleitung verkaufte und damit seine Freunde verriet. Ein skrupelloser Tyrann in Gefängniskleidung, der alle Rechte auf seiner Seite hatte und gegen den es für die, denen man jedes Menschenrecht aberkannt hatte, unmöglich war, sich zu währen.
„Dem werde ich eine rein hauen!“ Haben sich damals verständlicher Weise viele gesagt. Getan hat es aber niemand. Und das aus gutem Grund. Denn keiner dieser Gefangenen wollte das immer wehrende Risiko eingehen, für einen absolut berechtigten Faustschlag nicht nur zwei weitere Jahre im Gefängnis sitzen, sondern auch noch vom Staate, der nur auf eine passende Gelegenheit wartete kriminalisiert zu werden. Und so erduldete man, was sich nicht bekämpfen ließ. 
**
Viel Zeit ist seither vergangen und die meisten Gefangenen von damals, von denen einer diese Geschichte schrieb haben bekommen, wofür sie so lange kämpften und litten.
Und Jürgen, der Kapo? Was ist aus ihm geworden? Eine Frage, die unbeantwortet bleibt. Alles, was man heute weiß ist, dass er, genau wie alle anderen im Zuge der Amnestie, die im Jahre 1989 stattfand als politisch Inhaftierter entlassen wurde und sich vermutlich sofort aus dem Staub machte.
Dorthin, wo er vielleicht wieder in einem Gefängnis sitzt und wo ihm zu wünschen ist, dass er niemandem begegnet, der so charakterschwach ist, wie er es damals war.
Alle hier genannten Namen wurden geändert.
*Sprecher: Eine in den DDR Gefängnissen gebräuchliche Bezeichnung für den von der Stasi oder der Gefängnisleitung reglementierten Empfang von Angehörigen.

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