David Bowie

Eine Platte, die man (angeblich) kennen sollte – die Dedalus Root aber noch nie gehört hat: David Bowie – Ziggy Stardust (1972)

Heute ist also der große Tag. 31 Stühle stehen im winzigen Allzweckraum des Gemeindezentrums im Kreis. Auf einem abgewetzten Schultisch stehen einige Tassen, eine Thermoskanne mit Kaffee und ein Teller mit altem Gebäck. Mir gegenüber auf den Stühlen sitzen 30 mir gänzlich unbekannte Menschen und betrachten mich interessiert, während ich als Einziger stehe und nervös an meiner selbstgedrehten Zigarette ziehe. Ich weiß, dass das, was gleich folgt, Teil meiner Therapie ist, schließlich sind wir kein Kaffeekränzchen, sondern eine Selbsthilfegruppe, aber trotzdem habe ich furchtbare Angst. Auch wenn ich vermute, dass jeder von Ihnen ähnliche Probleme hat, befürchte ich, dass sie mich auslachen werden, wenn ich das Wort ergreife und mein Problem schildere…

„Hallo, mein Name ist Dedalus, und allem Anschein nach bin ich ein Musikignorant…“

„Hallo Dedalus!“

 

„Was zum Teufel mache ich hier?“, frage ich mich. Wie konnte es dazu kommen, dass ich, der von sich behauptet er habe ein solides und ziemlich breit gefächertes musikalisches Allgemeinwissen, einige der wichtigsten Platten der Musikgeschichte nicht kenne? Und noch wichtiger: Wie zur Hölle schreibe ich eine Rezension über ein Album, das ich noch nie gehört habe?

Bei der Recherche für diesen Blogeintrag habe ich ein gutes Dutzend Listen gewälzt, um mir eine Übersicht darüber zu verschaffen, welche Platten man gemäß herrschender Meinung gehört haben sollte. Der Rolling Stone führt eine Liste der „500 Greatest Albums of All Times“, und rocklistmusic.co.uk hat eine Liste der 1001 Alben veröffentlicht, die man gehört haben muss, bevor man stirbt. Die Listen enthalten Platten, die in musikalischer Hinsicht das sind, was Musils Mann ohne Eigenschaften in literarischer darstellt: Meisterwerke und Meilensteine ihrer Ära.

Auf Platz 1 listet der Rolling Stone St. Pepper’s Lonely Hearts Club Band der Beatles, eines der ersten tatsächlichen Konzeptalben der Popgeschichte, dessen Albumcover allein schon genug Stoff für drei Sachbücher in sich birgt. Es folgt Pet Sounds (Beach Boys), das St. Pepper überhaupt erst möglich gemacht hat und auf dem neben den üblichen Instrumenten klappernde Löffel, Cola-Dosen, Plastikflaschen und Fahrradklingeln zum Einsatz kommen. Das war im Jahr 1966 und somit 14 Jahre, bevor die Einstürzenden Neubauten auch nur daran dachten, auf Schrott und Alltagsgegenständen rumzutrommeln…

Die Liste des Rolling Stone umfasst weitere Meisterwerke wie Bob Dylans Highway 61 Revisited (Gott sei Dank: gehört!), The Velvet Underground (gehört!) von der gleichnamigen Band sowie In A Gadda da Vida (Nie gehört!) von Iron Butterfly. Mit vielen der Platten aus dieser Liste geht es mir ähnlich wie mit Musils oben genanntem Hauptwerk: Ich kenne die Titel und bin dank Wikipedia und ein wenig gesundem Halbwissen in der Lage, ein wenig darüber zu parlieren ohne das Gesicht zu verlieren, falls dieses Thema auf einer Party zur Sprache kommen sollte. Aber in Ihrer Vollständigkeit gehört habe ich diese Meisterwerke nicht…

Auf Platz 35 finde ich dann tatsächlich etwas, das mich schockiert und mir die Schamesröte ins Gesicht treibt, denn auch dieses Album befindet sich nicht in meiner Sammlung:

The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars

„Bowie“, denke ich. „Klar kenne ich Bowie… Ich liebe Bowie!“ – Immerhin hat Bowie einige der großen Idole meiner Jugend, wie Trent Renzor oder Marilyn Manson, geprägt. Ich kenne Songs wie Heroes, Major Tom, Changes und natürlich Ziggy Stardust. Ich besitze eine Best Of von Bowie und die Single-Collection, aber ein ganzes Album des „Thin White Duke“ habe ich mir nie gekauft.

Warum eigentlich? Ein Album zu kaufen, nach Hause zu rennen und die Platte aufzulegen, um sie von vorne bis hinten durchzuhören, hat eine Qualität, die durch Downloads oder den digitalen Kauf bei Amazon nicht erreicht werden kann. Es gibt kein Shuffle und keine Skip-Funktion, das Medium selbst zwingt einen, die Platte von Anfang bis Ende durchzuhören. Dazu bedarf es Muße und Aufmerksamkeit, und das ist gut… Den Mann ohne Eigenschaften lesen wir ja auch nicht auf dem Klo oder beim Bügeln, oder? Ziggy Stardust also…

Das Album in seiner Gänze zu hören ist vor allem deswegen spannend, weil Bowie mit dieser durch klassische Hardrock-Gitarrenriffs und eingängigen Refrains geprägten Platte ein Konzept-Album hingelegt hat, das stilprägend für die gesamte Glamrock-Ära ist – und weil er mit diesem Album nicht nur Musik, sondern ein ganzes Image rund um die Kunstfigur Ziggy Stardust geschaffen hat. Allein die Textzeile „well hung with snow white tan“ des Titelsongs lässt mich unweigerlich an Musikgrößen wie Marc Bolan, Freddy Mercury oder Marilyn Manson denken, und lässt die Frage aufkommen, ob Bill Kaulitz weiß, wem er seinen Look zu verdanken hat. Am treffendsten hat Bowie selbst seinen Einfluss auf die Popwelt in einem Interview festgehalten: „I consider myself responsible for a whole new school of pretensions. They know who they are. Don’t you, Elton? Just kidding. No, I’m not.“ Genau diese Mischung aus augenzwinkernder Ironie und bitterem Zynismus zieht sich auch wie ein roter Faden durch das Album…

Bowie beginnt seine Erzählung in einer dem Untergang geweihten Welt, die die nächsten fünf Jahre nicht überstehen wird (Five Years) und weist uns direkt im nächsten Song den Weg zur Erlösung: die spirituelle, anbetungsvolle Nächstenliebe (Soul Love) der „church of man“. Zum Verkünder dieser Liebe ist sein schillerndes Alter-Ego Ziggy Stardust (Moonage Daydream) auserkoren, der seinen Fans die Nachricht eines Außerirdischen (Starman) verkündet, die baldige Erlösung und Rettung verspricht. Der schwere und steinige Weg an die Spitze des Rock-Olymp wird kurz angedeutet (It ain’t Easy), doch einmal am Gipfel angekommen, wird der von seinen Fans abgöttisch verehrte und außerirdisch schöne, androgyne Ziggy (Lady Stardust) zum überlebensgroßen Rockstar, der seinen Fans und der ganzen Menschheit ein Leben in Freiheit und Unschuld verspricht (Star).

In Wahrheit loten Ziggy und seine Spiders from Mars lediglich die Extreme des Rockstartums aus und verlieren allmählich den Boden unter den Füßen (Hang Onto Yourself). Ziggy selbst, der seine Fans und die Gitarre mit einer Leichtigkeit beherrscht, die Ihresgleichen sucht, verliert sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere mehr und mehr in der Rolle des Rock’n'Roll-Messias und geht dabei so weit, dass er Neid und Missgunst seiner Bandgenossen heraufbeschwört (Ziggy Stardust), so dass sich das nahende Ende abzeichnet. Schließlich erliegt Ziggy und seinem Hang zu Selbstzerstörung und Dekadenz (Suffragette City) und geht letztendlich daran zugrunde (Rock’n'Roll Suicide).

Nachdem ich das Album vollständig gehört habe, bin ich erstaunt wie viele Songs des Albums ich wider Erwarten doch kannte. Das erste Hören der Platte war ein wenig, als sähe man Casablanca zum ersten Mal und stellte dabei erstaunt und peinlich berührt fest, dass ein gutes Dutzend Filmzitate, die man allesamt kennt, aus diesem Film stammen… Spätestens wenn Bowie auf Sufragette City zu seinem legendären „Wham! Bam! Thank You Ma’am!“ ansetzt, ist man peinlich berührt dieses Album nicht vorher schon gekannt zu haben…

Und damit mir solche Peinlichkeiten und vor allem die erniedrigenden Selbsthilfegruppen mit ihrem schlechten Kaffee in Zukunft erspart bleiben, werde ich nun losziehen, um alle 500 Alben der Liste zu kaufen und zu studieren.

Danke!

Fakten zu Ziggy Stardust: 1997 wurde Ziggy Stardust bei der Umfrage Music of the Millennium von HMV, Channel 4, The Guardian und Classic FM auf den 20. Platz in der Kategorie „bestes Album aller Zeiten“ gewählt. 1998 zeichneten es die Leser des Q-Magazins mit Platz 24 aus, während der Fernsehsender VH1 es 2003 auf Platz 48 sah. Der Rolling Stone würdigte es als Nummer 35 der 500 „besten Alben aller Zeiten“, Q zeichnete es 2000 als Nummer 25 der 100 „besten britischen Rock-Alben“ aus. Das Album wurde am 25. Januar 1972 in Großbritannien mit Gold und Platin und am 12. Juni 1974 in den Vereinigten Staaten mit Gold ausgezeichnet. (Quelle: Wikipedia)

Track Listing:

Über den Autor: Dedalus Root lebt seit sechs Jahren in Berlin, hört anscheinend viel zu wenig gute Musik und hat Robert Musils Mann ohne Eigenschaften noch nie vollständig gelesen. Er bloggt unter  über das Leben, das Universum den ganzen Rest.

David Bowie: Website Myspace Amazon

Dieser Text entstand im Rahmen des Gemeinschaftsprojekts „31 Tage – 31 Platten“. Mehr dazu gibt es an dieser Stelle.


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