Das Schrecknis der stillstehenden Rolltreppe

Steintreppe, Rolltreppe abwärts, stillstehende Rolltreppe (v.l.n.r.)

Steintreppe – Rolltreppe abwärts – stillstehende Rolltreppe (v.l.n.r.)

Bei mir um die Ecke gibt es eine Einkaufspassage. In dieser Einkaufspassage gibt es eine Rolltreppe. Genauer gesagt gibt es deren zwei: die eine fährt hoch, die andere fährt runter. Daneben ist noch eine normale Treppe für alle, die Angst vor Rolltreppen haben.

Gestern stand die hochfahrende Rolltreppe still. Sie war nicht gesperrt, sie bewegte sich einfach nicht. Von der Ferne war das nicht zu erkennen, und so kamen die Leute in alter Gewohnheit und wollten mitfahren. Am Fuß der Treppe angekommen, passierte etwas merkwürdiges. Anstatt – nach kurzem Erstaunen – einfach die stillstehende Treppe hochzugehen, drehten sie scharf um 90° nach links ab und benutzten die Steintreppe. Das machten nicht nur ein oder zwei so, sondern alle. Die stillstehende Rolltreppe war völlig verwaist.

Einen objektiven Grund für dieses Verhalten gab es nicht. Man hätte die stillstehende Rolltreppe problemlos hochgehen können. Der Weg zum Supermarkt wäre sogar kürzer gewesen als mit dem Umweg über die Steintreppe. Man brauchte auch keine Sorge zu haben, dass die Rolltreppe sich womöglich in der umgekehrten Richtung in Bewegung setzen könnte – die abwärtsfahrende Rolltreppe nebendran war ja störungsfrei in Betrieb.

Psychologen würden jetzt wohl die Macht der Gewohnheit in Feld führen: die Menschen vermeiden die ungewohnte Situation, auf einer stillstehenden Rolltreppe zu Fuß gehen zu müssen. Da könnte was dran sein. Ich würde aber noch einen Schritt weitergehen.

Das Fahren auf einer Rolltreppe ist Magie. Ich nehme ein paar Schritte Anlauf, und die unsichtbare Kraft trägt mich weiter. Es ist wie beim Gleitschirmfliegen – nach dem Absprung trägt mich die Luft von selbst. Rolltreppen gehören zwar zum Alltag und werden als nichts außergewöhnliches wahrgenommen – aber sie sind eben doch ein Stück Alltags-Magie, eine minimale Transzendierung meiner üblichen Bewegungsabläufe, ein schwacher, aber doch spürbarer Widerhall jener alten Sehnsucht nach dem Flug der Vögel, nach der Schwerelosigkeit, nach der paradiesischen Mühelosigkeit…

Diese Magie wollen die Leute, die um 90° abbiegen, nicht opfern. Ich kenne das von mir selbst. Ich bin selbst schon – wenn in ähnlichen Situationen keine normale Treppe verfügbar war – eine stehende Rolltreppe hochgegangen: es ist wirklich ein seltsames Gefühl. Wir sind so konditioniert auf den leichten Schwung, mit dem uns die Rolltreppe mitnimmt – wenn er ausbleibt, ist das mit einer merkwürdigen physischen Irritation verbunden. Es ist eine Erfahrung der Ernüchterung, der Detranszendierung: wir können plötzlich nicht mehr fliegen. Wir werden auf unsere kleine, arme Erdenexistenz zurechtgestutzt. Diese Erfahrung will niemand machen.

Darum sind die Leute um 90° abgebogen. Sie können auch auf der Steintreppe nicht fliegen. Aber das ist normal. Das erwartet auch niemand. Die Rolltreppe hingegen, verwaist und ungenutzt, behält ihre verborgene Magie.


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