Das Kapital spricht nicht

Zwei junge Männer und eine junge Frau sitzen am Tisch und beenden vergnüglich ihr Essen. Währenddessen nimmt das Publikum auf seinen Sitzen Platz und fühlt sich, als sei es Teil dieser Abendeinladung. Noch einmal wird es im Verlaufe der Vorstellung Teil des Geschehens sein – sich dann allerdings in einer wesentlich ungemütlicheren Position befinden.

Ein Volksheld von Henrik Ibsen auf der Bühne des Theaters Spielraum in Wien (c)-Barbara Pálffy

Ein Volksheld von Henrik Ibsen auf der Bühne des Theaters Spielraum in Wien (c)-Barbara Pálffy

Aus dem wie immer höchst informativen Programmheft des Theater Spielraum entnimmt man, dass das derzeit gespielte Stück „Ein Volksfeind“ von Henrik Ibsen allein in Deutschland in diesem Jahr auf 10 Bühnen aufgeführt wurde. Es ist somit kein Stück, das in den Schubladen der Intendanten verschimmelt, sondern soeben eine Renaissance erlebt. Der Grund liegt auf der Hand. Ibsens Stück ist in seiner Thematik derart aktuell, dass es eins zu eins übernommen werden könnte und passgenau unsere heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegelt. Und das, obwohl es in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts seine Uraufführung erlebte. Für die Produktion im Theater in der Kaiserstraße hat sich Gerhard Werdeker jedoch eines kleinen Kunstgriffes bedient. Er legte den Charakteren eine zeitgeistige Sprachregelung in den Mund bei der „Nachhaltigkeit“, „Konsensorientierung“ oder „mündige Bürger“ als stehende Begriffe verwendet werden. Und er verjüngt die ProtagonistInnen um eine Generation und stellt damit eine junge Familie ins Spannungsfeld zwischen Eigen- und Gemeinwohl. Ibsen beschreibt in seinem Stück, wie ein kritischer Arzt, der den Kurbetrieb einer florierenden Badeanstalt leitet, durch die Aufdeckung des Umstandes, dass das Wasser gesundheitsgefährdend ist, vom handsamen Bürger zum verhassten Volksfeind mutiert.

Der junge Dr. Thomas Stockmann – plausibel und mit Herzblut von Christian Kohlhofer gespielt – begeht mit seiner Frau Katharina, seinen vermeintlichen Freunden – Hovstad, dem Redakteur der Stadtzeitung und Billing, einem Mitarbeiter derselben – einen gewaltigen Fehler. Nachdem der junge Arzt die verheerenden Probenanalysen des Wassers schwarz auf weiß in Händen hat, ist er der Meinung, mit der Veröffentlichung derselben seiner Gemeinde einen großen Gefallen zu tun. Seine Frau und die Freunde feiern den heldenhaften Arzt bereits als Retter der Stadt und malen sich schon aus, wie man ihm dafür danken würde. Keiner von ihnen hat jedoch auch nur einen Funken politische Erfahrung oder ein klein wenig macchiavellisches Denkvermögen. Und gerade dieser Umstand bringt Dr. Stockmann und seine Frau an den Rand ihrer gesicherten Existenz.

Sein Gegenspieler Peter – zugleich auch sein Bruder – agiert als Stadtrat und erkennt sofort die Brisanz dieses Papieres. Ihm wird in Sekundenschnelle klar, dass sein Posten wackelt, wenn die Stadt finanziell für die Schadensbehebung aufkommen muss, und setzt alles daran, dass diese Tatsachen nicht bekannt werden. Daniel Ruben Rüb als glatzköpfiger, aber sehr smarter Politiker, der gewohnt ist, Hände des Stimmvolkes zu schütteln und dabei ein freundliches Gesicht zu machen, scheut sich nicht, eine Volksversammlung agitatorisch mit Mitstreitern zu besetzen, um seinen Bruder mundtot zu machen. Und diese Szene ist es, die richtig unter die Haut geht. Denn Thomas erkennt zwar rasch, dass er auch mithilfe von Aslaksen, dem Herausgeber der Stadtzeitung, der nie müde wird, sich als konsensorientiertes Mitglied des Hausbesitzerverbandes darzustellen und seine Fahne in den jeweiligen Wind zu hängen weiß, mundtot gemacht werden soll. Es fehlt ihm jedoch die geschliffene Klinge einer Diplomatensprache, mit der er allenfalls das Ruder für sein Anliegen noch herumreißen hätte können. Ganz im Gegenteil wird er so emotional, dass seine furiose Ansprache zu einer Volks- respektive Publikumsbeschimpfung ausartet, bei der das Wort „Stimmvieh“ noch als eines der harmloseren fällt. Und tatsächlich hat in diesem Moment das Publikum seiner Rage nichts entgegenzusetzen. Niemand, der sich auf seine Seite schlägt und ihn verteidigt, niemand der auch nur im Geringsten seiner Empörung ob der Beschimpfung Ausdruck verleiht. Die schweigende Mehrheit, die Ibsen in diesem Stück so anprangerte, bleibt schweigsam und wird von dem jungen Dr. Stockmann folgerichtig als Übel einer nicht gut funktionierenden demokratischen Gesellschaft erkannt. Doch sind es nicht nur die wahrhaft Unmündigen, die eine Gesellschaft zum Wanken bringen. Die teuflische Kombination besteht aus ihnen, der an ihren Sessel klebenden PolitikerInnen und aus der Kumulierung des Kapitals. Ein Umstand, der mittlerweile – landauf und -ab als Marx´sche Prophetie ihre Erfüllung findet und die Menschen ratlos und schweigend zurücklässt.

Und auch hier traf Ibsen mit seinem Werk ins Schwarze des aktuellen Weltgeschehens. Morten Kiil, sowohl Fabriksbesitzer als auch Schwiegervater von Thomas Stockmann ist es, der sich eines mephistophelischen Schachzuges bedient um – und das ist wohl die Ironie der Geschichte – der jungen Familie doch noch eine finanzielle Lebensgrundlage zu bieten. Er verwendet seine finanziellen Rücklagen, die er für seine Tochter und deren Kinder verwenden wollte, und kauft die ins Bodenlose gefallenen Aktien der Kur- und Badeanstalt auf. Zwar ist es ihm bewusst, dass er damit seine Tochter und seinen Schwiegersohn in einen immensen Gewissenskonflikt bringt, aber er weiß um die Macht des Faktischen. Alexander E. Fennon, derzeit gefragter Filmschauspieler, hat nur wenige Sätze. Gekleidet in edlen Nadelstreif, ausgestattet mit exaktem Haarschnitt, reicht sein Auftreten, um die Bedrohung körperlich spürbar zu machen, die von seiner finanziellen Machtfülle ausgeht. Da kann die Politik Winkelzüge einfädeln wie sie will, die Presse vertuschen oder aufbauschen wie sie möchte – gegen sein Kapital werden alle handlungsunfähig. Anders als im Original bleibt der Ausgang des Geschehens bei der Wiener Fassung offen. Ein Ende, das unserer gesellschaftlichen Verfasstheit entspricht, über die niemand von uns derzeit Prognosen der weiteren Entwicklung abgeben kann.

Samantha Steppan, als junge Ehefrau, die zwischen der Loyalität zu ihrem Mann und der Zukunftsangst für ihr Kind steht, Peter Pausz und Stefan Kurt Reiter als journalistische Wendehälse sowie Klaus Schaurhofer in der Rolle des „konsensorientierten“ Herausgebers, dessen einziges herausragendes, positives Persönlichkeitsmerkmal in seinen knallroten Socken zu finden ist, formen jenes gesellschaftliche Umfeld, an dem exemplarisch die Mechanismen einer gesellschaftlichen Deformation weg von der Wahrheit hin zum vermeintlich Machbaren klar werden.

Die Art von Inszenierung hat sicherlich im Sinne der Mann- und Frauschaft um Gerhard Werdeker und Nicole Metzger, die für die Dramaturgie verantwortlich zeichnet dann ihr Ziel erreicht, wenn auch nur eine Einzige oder ein Einziger im Publikum in Zukunft aus der schweigenden Mehrheit heraustritt. Dabei wünsche ich dem Theater Spielraum, dass seine Arbeit nicht im übertragenen Hein´schen Sinne ein Eiapopeia des Theaterhimmels bleibt.

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