Das Gesetz des Schweigens – Leonardo Sciascia und der tiefe Staat

DAS GESETZ DES SCHWEIGENS
Leonardo Sciascia und der tiefe Staat

von Richard Albrecht

»Dem Volk hat man damals Hörner aufgesetzt und [man] setzt ihm heute Hörner auf. Der Unterschied besteht lediglich darin, daß der Faschismus dem Volk eine einzige Fahne an seine Hörner hängte und daß die Demokratie es jedem erlaubt, sich selbst eine von der Farbe, die ihm gefällt, an seine eigenen Hörner zu hängen …« Leonardo Sciascia, 1961

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Statua di Sciascia a Racalmuto – Foto: © Davide Mauro

Der Schriftsteller und Sozialist Leonardo Sciascia veröffentlichte vor fünfunddreißig Jahren unter dem Titel »Die Affäre Moro« (1978) ein Sachbuch über den Tod des von den Roten Brigaden entführten und später unter bis heute nicht gänzlich geklärten Umständen ermordeten christdemokratischen Spitzenpolitikers Aldo Moro (1916-1978), das die Machtsicherung durch bestimmte verborgene Staatsbereiche und Geheimdienste thematisierte. Von Anfang der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre hatte er sich bereits in vier Kriminalromanen und Novellen, die als Kritik an der Mafia und an Mafiapraktiken in der Politik gelesen wurden, mit dem Phänomen des tiefen, geheimen oder parallelen Staats befaßt.
»Der Tag der Eule« (1961), »Tote auf Bestellung« (1966), »Tote Richter reden nicht. Eine Parodie« (1971) und »Todo Modo oder das Spiel mit der Macht« (1974) wurden vom Benzinger Verlag, der sie in deutscher Sprache erstveröffentlichte, später unter dem Titel »Das Gesetz des Schweigens. Sizilianische Romane« zusammengefaßt. In diesen Büchern erscheint die Mafia weder als Mythos noch als Folklore. Ihre Aktivitäten werden auch nicht auf eine allgemeine Methode zurückgeführt, wie es der Soziologe Erhard Stölting will. Sciascia beschreibt sie immer konkret: als eine geschichtliche, zunächst auf Sizilien besonders aktive kriminelle Vereinigung mit profitablen, machtbezogenen und geheim gehaltenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Praktiken.

Ein sizilianischer Schriftsteller

Geboren wurde Sciascia, der von Beruf Lehrer war, am 8. Januar 1921 im Afrika zugewandten Süden der Insel Sizilien in der kleinen Küstenstadt Racalmuto. Das ist in der Nähe der (heute knapp 60000 Einwohner zählenden) Provinzhauptstadt Agrigento (damals Girgenti). Ab 1959 unterrichtete er in seiner Heimatgemeinde, später in Palermo, wo er sich auch politisch engagierte und am 10. November 1989 schließlich verstarb. Ab 1968 arbeitete er freiberuflich und machte sich als Autor bald einen Namen. 1975 kandidierte er auf einer offenen Liste der Partido Comunista Italiano (PCI) erfolgreich für den Stadtrat, trat aber bereits nach zwei Jahren zurück.

Als macht- und staatskritischer Prominenter zog er 1979 schließlich für die linkssozialistische Partito Radicale ins Europaparlament in Strasbourg.
Sciascias erstes Buch, eine antifaschistische Fabel, erschien 1950. Es folgten Gedichte und Essays, darunter ein wichtiger Text über den sizilianischen Nationalschriftsteller Luigi Pirandello (1867-1936), der 1953 erschien. 1956 folgte ein Roman über eine kleinstädtische Kirchengemeinde, 1958 der Erzählband »Gli zii di Sicilia« (deutschsprachiger Titel »Sizilianische Verwandschaft«). Danach erschienen die vier sizilianischen Krimibände sowie zwei Sachbücher, die sich um die Aufklärung von spektakulären Kriminalfällen bemühten. In »Der Fall Majorana« (1975) geht es um den 1938 verschwundenen sizilianischen Atomphysiker. In »Die Affäre Moro« vertritt Sciascia die These eines Zusammenspiels von linksradikalen Entführern und Kräften des herrschenden Blocks durch Vermittlung dubioser Elemente des tiefen, geheimen oder Arkanstaats italienischer Ausprägung. Im Buch über Aldo Moro finden sich Hinweise, daß der damalige Spitzenfunktionär der Democrazia Cristiana sterben mußte, weil er den historischen Kompromiß (»compromesso storico«) zwischen den Kommunisten der Partido Comunista Italiano und dem bürgerlichen Block aus Christ- und Sozialdemokraten politisch befürwortete.
Scheiternde Aufklärung.

Sciascias sizilianische Kriminalromane

In »Der Tag der Eule« wird ein»unerhörtes Ereignis« lakonisch erzählt: Capitano Bellodi, von Parma nach Palermo versetzt, soll einen Mord aufklären. Ermordet wurde Colasberna, Vorsitzender einer unabhängigen Baugenossenschaft und Sozialist. Er wollte sich von der Mafia nicht »schützen« lassen. Bellodi klärt in beharrlicher Polizeiarbeit sowohl diesen ersten Mord als auch zwei weitere, mit diesem zusammenhängende, Morde auf. Alle Spuren verweisen auf den Mafiaboß Don Mariano Arena. Der wird festgenommen. Nun interessieren sich in Rom Abgeordnete und Minister für den Fall. Sie befürchten bei weiterer Aufklärung einen nationalen Skandal. Der Fall wird in der Justiz manipuliert: Falsche Zeugen bezeugen vor Gericht die Unschuld der Täter, die daraufhin freigelassen werden.

Bellodi erhält Heimaturlaub und erfährt in Parma aus Zeitungsberichten, daß »sein« Fall Mord aus Eifersucht gewesen sein soll. Colasbernas Witwe und ihr Liebhaber sind schon festgenommen.
Diese Romananlage erweist sich als typisch auch für die folgenden Sciascia-Romane zum Gesetz des Schweigens. Mafia und »organisiertes Verbrechen« sind – so der Literaturwissenschaftler Ulrich Schulz-Buschhaus – »in die normale gesellschaftliche Ordnung integriert«. Der um Tataufklärung bemühte Detektiv wird Außenseiter. Klärt er wider Erwarten der Herrschenden das Ausgangsverbrechen auf, dann hat diese »unerwünschte Detektion negative Folgen nicht für die Entdeckten, sondern umgekehrt für den Entdecker«. Zur Anlage dieser grundlegenden Verkehrung und ihrer Folgen meint Schulz-Buschhaus: »Im “Tag der Eule” verliert der Detektiv jede Kontrolle über die juristische Auswertung seiner Rekonstruktionen, und die beiden anderen Bücher (rTote auf Bestellungl und “Tote Richter reden nicht” enden sogar mit der Ermordung der Detektive (…) Die Erkenntnis des Detektivs wird durch eine Manipulation der etablierten Macht erpreßt, welche die Existenz einer Mafia leugnet und den zentralen Mordfall statt dessen aus den Leidenschafts- und Ehrenmotiven der sizilianischen Folklore erklärt.«

Diese Grundanlage wird in den folgenden Romanen durchgespielt und weiterentwickelt. In »Tote Richter reden nicht« wird der ermittelnde Polizeiinspektor Amerigo Rogas bei einem gemeinsamen Treffen mit dem Ersten Sekretär der PCI nicht nur wie dieser ermordet. Sondern auf Weisung des Innenministers wird auch öffentlich behauptet, Rogas hätte mit seiner Dienstpistole zuerst den Sekretär und dann sich selbst erschossen. Und im (1976 verfilmten) Roman »Todo Modo«, dem zuletzt erschienenen Text von Sciascias vier sizilianischen Romanen, werden die Kämpfe um den Machterhalt und die Machtspiele der Herrschenden so eindringlich geschildert, daß das Bemühen des verwirrten Detektivs um Aufklärung, zum Scheitern verurteilt scheint. Hier deutet sich bereits an, was der Schriftsteller Peter O. Chotjewitz, der Sciasci übersetzte, über sein Schreiben sagte. Dieses trage seit Mitte der 1970er Jahre resignative Züge: »Das Verbrechen ist Teil des politischen und sozialen Machtsystems, das keine Vernunft besiegen kann.«

Geheime Machtsicherung

Im Zentrum sowohl von Sciascias Kriminalromanen als auch seines Buchs über die Affäre Moro stehen Phänomene der Machtsicherung durch bestimmte verborgene Staatsbereiche, einem parallelen Staat, der auch mit dem Begriff des tiefen oder Arkanstaats bezeichnet wird. Der Begriff ist historisch verbunden mit der kemalistischen Herrschaft in der Ende 1924 gegründeten Türkischen Republik. Der Politikwissenschaftler Rudolph J. Rummel sprach von »tiefer Gesellschaft« zur Herrschaftssicherung traditioneller Eliten.
Im Italien der 1970er Jahre ging es um innere wie äußere Geheimdienste, Gerichtsprozesse, Geheimlogen wie die rechtsextreme P2, das »Stay-behind«- oder »Gladio«-Phänomen und NATO-Putschpläne gegen politische Linksentwicklungen. Im deutschen Staat im Staate wiederum blieb die Verwicklung von Staatsbehörden in die Aktivitäten des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds bislang weitgehend unaufgeklärt. Das betrifft Einrichtungen wie den »Verfassungsschutz« mit Landesämtern und Bundesamt, Militärischen Abschirmdienst, Bundesnachrichtendienst, Bundeskriminalamt und Landeskriminalämter, (den damaligen) Bundesgrenzschutz und Bundesanwaltschaft sowie politisch weisungsgebundene Justizbehörden wie die Staatsanwaltschaften bei allen Landgerichten. Das NSU-Phänomen verweist, ähnlich wie die italienische Moro-Affäre, auf die Bedeutung des verdeckten Zusammenspiels verschiedener Kräfte, Bereiche und Einrichtungen des geheimen oder Arkanstaats, als eines auch in Deutschland realem Staat im Staate. In diesem Zusammenhang könnte sich Sciascias in der Affäre Moro vertretene These des verdeckten Zusammenspiels scheinbarer politischer Gegensätze als anregend, nützlich und aufklärend erweisen.


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Quellen – weiterführende Links

Statua di Sciascia a Racalmuto – Foto: © Davide Mauro, public domain

Hinweise auf Texte von Leonardo Sciascia
La mafia; in: ders., Pirandello e la Sicilia [1961]. Caltanissette-Roma ²1968: 163-180; Il giorno della civetta; 1961. Der Tag der Eule. Übersetzung Arianna Giachi. München 1987; A ciascuno il suo; 1966. Tote auf Bestellung. Übersetzung Arianna Giachi. München 1987; Il contesto. Una parodia. 1971. Tote Richter reden nicht. Eine Parodie. Deutsch Helene Moser. Zürich-Köln 1974; Todo modo; 1974. Todo modo oder das Spiel um die Macht. Deutsch Hansjörg Hofer. Zürich-Köln 1977; La scomparsa di Majorana; 1975. Der Fall Majorana. Deutsch Ruth Wright; Ingeborg Brandt. Stuttgart 1978; L’affaire Moro; 1978. Die Affäre Moro. Deutsch Peter O. Chotjewitz,. Königstein/Ts. 1978; I professionisti dell´ antimafia; in: Corriere della sera, 10.1. 1987 <Link>


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