Dacia Maraini – Das Mädchen und der Träumer

Dacia Maraini – Das Mädchen und der Träumer

Dacia Maraini gilt als eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen Italiens. Die Grande Dame der italienischen Literatur , die mit Alberto Moravia liiert und mit Pier Paolo Pasolini befreundet war, veröffentlichte eine Vielzahl Romane und Erzählungen. Ihr neuester Roman „Das Mädchen und der Träumer“ erscheint jetzt auf Deutsch im Folio-Verlag.

Nani Sapienza ist Lehrer in einer italienischen Kleinstadt. Eines Morgens erwacht er aus einem Traum, in dem er glaubt, seine Tochter gesehen zu haben, die ebenso unvermittelt wieder verschwindet wie sie aufgetaucht ist. Doch seine Tochter ist tot. Sie hat den Kampf gegen die Leukämie nicht gewonnen. Sie hatten gehofft und gefleht, er und seine Frau, die ihn kurze Zeit später verließ, weil sie es in dem gemeinsamen Haus nicht mehr aushielt. Als Sapienza an diesem Morgen das Radio anschaltet, berichtet die Moderatorin vom Verschwinden der jungen Lucia, einem Mädchen, das in die Schule geht, in der unterrichtet. Sie ist morgens zur Schule losgegangen, aber nie dort angekommen. Seitdem fehlt jede Spur von ihr. Das Erstaunliche an dieser Meldung ist aber, dass die Personenbeschreibung Lucias exakt auf das Mädchen in seinem Traum passt, sogar die Kleidung ist die gleiche. So beginnt der Lehrer nach dem Mädchen zu forschen, geht über Monate hinweg allerlei Spuren nach, obwohl alle – sogar Lucias Eltern – die Suche bereits aufgegeben haben. Dabei bezieht er selbst seine Schulklasse, die er zum Leidwesen der Direktorin auf oft unorthodoxe Weise unterrichtet, in die Suche nach der Schülerin mit ein.

„Heute Nacht habe ich von ihr geträumt. Der Traum war klar und deutlich. Lucia hatte leere Augenhöhlen, wie die heilige Lucia in der Kirche von Pozzobasso. Wo sind deine Augäpfel?, habe ich sie gefragt, in einer Art Gebärdensprache, ohne meine Lippen zu bewegen. Sie lächelte geheimnisvoll. Und dann war sie weg.“

Dacia Maraini

Dacia Maraini – Foto: Ireneo Alessi (Sinix Lab/ Rom)

Dacia Maraini ist ein bewegendes Buch gelungen, das sich einem ernsten Thema annimmt. Es geht jedoch um mehr als um verschwundene Kinder, eine Thematik, die für sich schon bedrückend genug ist. Maraini geht der Frage nach, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt und lässt dabei auch nicht Fragen zu Integration oder der Radikalisierung junger Muslime aus. „Viele Kinder werden jedes Jahr als vermisst gemeldet und das nicht nur in Italien. Dieses Thema berührt mich immer sehr. Es ist ein dunkler Teil unserer westlichen Zivilisation, die als progressiv und liberal gilt, als respektvoll gegenüber den Schwächeren. Die jedoch kaum reagiert im Angesicht Tausender verschwundener Kinder pro Jahr“, sagt die Schriftstellerin. Sie lese häufig in italienischen Schulen, meist Mittelschulen und Gymnasien, zum Teil aber auch in Grundschulen.  Diese Begegnungen empfindet sie als sehr wichtig , um zu verstehen, in welche Richtung ihre  Heimat sich entwickelt. Das Mädchen und der Träumer ist das erste Buch Marainis, das aus der Perspektive eines männlichen Protagonisten geschrieben ist. Vielleicht lässt sie Nani Sapienza diese Geschichte erzählen, um vor allem junge Lehrer zu ermutigen, sich ihrer Aufgabe und somit den Kindern, die sie unterrichten, mit mehr Leidenschaft zu widmen.

Bei solchen Besuchen in Grundschulen ist es vorgekommen, dass ich junge, leidenschaftliche Lehrer traf, die geradezu verliebt in ihr Fach waren. Die Mehrheit der Grundschullehrer bei uns sind Frauen. Jedoch habe ich nie junge Grundschullehrer getroffen, die vollkommen eingenommen waren von ihrer Arbeit und sich ihren kleinen Schülern so sehr hingaben. Nani Sapienza ist zwar ein problematischer Mensch, aber er ist aufrichtig und leidenschaftlich in Bezug auf seine Arbeit.“ 
Maraini zur Frage, warum sie einen männlichen Protagonisten wählte

Im Titel des Buches wird schon deutlich, welche Rolle Träume in dem Roman einnehmen. Ein Traum ist es, der Sapienza überhaupt erst dazu bewegt, nach der kleinen Lucia zu suchen. Für Maraini sind Träume nicht Schäume, wie es die Redensart sagt, sondern Signale, die mit reiner Logik jedoch nicht einfach zu erklären sind. „Aber sie haben immer eine tiefe Bedeutung. Deshalb  beziehen sich die Psychoanalytiker auch auf diese rätselhaften Geschichten der Nacht. Träume sind Warnzeichen wie Fieber. Das Fieber sagt dir nicht, welche Krankheit du hast, aber es signalisiert dir, dass etwas nicht stimmt. Früher bat man Spezialisten, Träume zu deuten. Die Träume hatten für die Menschen große Bedeutung. Aufgrund von Träumen entscheiden sich Kriege, Expeditionen, Ehen, Allianzen.“

Sapienza lehrt seine Schüler oft durch Erzählungen. Maraini selbst hält die Geschichten für ein äußerst kraftvolles Element, um Menschen zu erreichen: „Geschichten sind sehr wichtig, weil sie, nicht nur den Verstand ansprechen, sondern auch die Gefühle. Und, wie David Hume sagte,  um unsere Beziehung zur Welt, zur Natur und zum Geheimnis des Lebens zu verstehen, müssen wir oft sowohl die Sinne als auch den Verstand einbeziehen.“ Nun ist die Frage, wohin sich die Gesellschaft entwickelt. Werden die Menschen gleichgültiger, fehlt es an Gegenstimmen, die Ungerechtigkeiten anprangern, Intellektuelle wie ein Pier Paolo Pasolini? Maraini glaubt nicht, dass es einen Mangel an Intellektuellen gibt. Auch nicht in Italien. Jedoch habe sich die kulturelle Situation geändert. Zu Pasolinis Zeiten haben sich die Intellektuellen als Gemeinschaft verstanden: „Sie trafen sich und diskutiert mit ihresgleichen, um gemeinsam gegen die Arroganz der Macht zu reagieren. Heute jedoch ist alles flüssiger, fragmentiert. Es gibt keine künstlerische Gemeinschaft, die sich als solche versteht, die sich um ihrer selbst willen trifft. Heute herrscht eine Art anarchischer Individualismus vor, aus dem sich ab und an eine Stimme hervorhebt, wie etwa Moretti zu Berlusconis Zeit oder Saviano gegen die Camorra. Es fehlt aber das Gefühl der Gemeinschaft.“ An die Freundschaft zu und die Zusammenarbeit mit Pasolini erinnert sich Maraini gerne.

„Er war ein perfekter Reisebegleiter, immer bereit, unzugängliche Orte zu erkunden, jegliche Gefahr verachtend, offen, neue Leute kennenzulernen, auch wenn sie sich in Religion und Kultur sehr unterschieden und konnte sich an die härtesten Bedingungen anpassen. Er war immer glücklich, wenn er mit Gleichgesinnten über Bücher sprechen konnte, über Poesie und das Kino. Kurz gesagt, es war ein Vergnügen, mit ihm zu reisen.“
Maraini über Pasolini

Mit Das Mädchen und der Träumer hat Dacia Maraini hat einen vielfältigen Roman geschaffen, der viele Fragen aufwirft und zahlreiche Themen anschneidet – von der väterlichen Liebe, der Einsamkeit bis zur Begier nach Wissen. Sie behandelt aber auch das Grauen, das es in vielen normalen Familien verbirgt. Familien zum Beispiel, in denen liebevolle Väter angebliche Geschäftsreisen dazu nutzen, in thailändischen Bordellen junge Mädchen sexuell auszubeuten. Und doch ist das Buch nicht einfach bedrückend. Vielmehr ist ihr Roman sentimental, unterhaltsam und faszinierend zugleich.

Dacia Maraini – Das Mädchen und der TräumerDacia Maraini
Das Mädchen und der Träumer
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler
Folio Verlag
Ca. 340 Seiten
ISBN 978-3-85256-715-0
Ca. € [D/A/I] 22,–
Erstverkaufstag: 21. Februar 2017

Im März ist die Schriftstellerin auf Lesereise:

28. März 2017, Literaturhaus München
29. März 2017, Italienisches Kulturinstitut Berlin
30. März 2017, Italienisches Kulturinstitut Köln
31. März 2017, Hauptbücherei am Gürtel Wien

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