Buchtipp: Dörte Hansen - Altes Land

Altes Land - Hansen, Dörte

Um Flüchtlinge geht es in diesem Roman, ein immer aktuelles Thema. "Grass vergleicht" die "in Deutschland um sich greifende Fremdenfeindlichkeit" "mit der eisigen Ablehnung, die den Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten nach Kriegsende entgegenschlug" - lese ich in meiner Tageszeitung in einer Besprechung des letzten Buches von Günter Grass, das gerade posthum erschienen ist (HAZ 26.8.15, Jürgen Feldhoff). Dörte Hansen war schneller mit diesem Vergleich!
"Altes Land" ist ein Roman von Menschen aus einem alten, verlorenen Land und von Menschen im Alten Land, der Landschaft bei Hamburg, die durch ihren Obstanbau bekann
t ist - ein durchaus doppelsinniger Titel also.

Hildegard von Kamcke flieht im Frühjahr 1945 mit ihrer kleinen Tochter Vera aus Ostpreußen und wird auf dem Hof der verwitweten Bäuerin Ida Eckhoff im Alten Land einquartiert, die gar nicht erfreut darüber ist: "Von mi gifft dat nix" und "Woveel koomt denn noch vun jau Polacken?" ist ihre abweisende Reaktion. Sie lässt sie in der Knechtekammer schlafen und ignoriert die Not der adligen Mutter, die täglich heimlich das Kind mit einem Apfel aus der Obstkammer und einem Becher Milch frisch gemolken von den Kühen versorgt. Aber die Verhältnisse entwickeln sich anders, als Ida Eckhoff es sich vorstellt. Zwei Jahre später kommt ihr Sohn Karl, der Hoferbe, als körperliches und seelisches Wrack traumatisiert aus der russischen Gefangenschaft zurück. Bald hat sie eine Schwiegertochter, die sich längst mit ihrer unermüdichen Arbeitskraft unentbehrlich gemacht hat und das alte Fachwerkhaus bis zur Unerträglichkeit umkrempelt, worüber die beiden Frauen immer wieder heftig in Streit geraten. Der weiteren Entwicklung entzieht sich Ida Eckhoff durch Selbstmord. Hildegard wurde nicht friedlicher danach, heißt es im Roman, "ihre Wut wechselte nur die Richtung, raste nun ungebremst auf Karl und Vera zu, die schief und schiefer wurden in dem ewigen Sturm, zwei windgeschorene Menschen". Vera wird später wieder gerade, Karl bleibt bis zu seinem Tod geknickt. Als Vera vierzehn ist, entzieht sich auch Hildegard von Kamcke der weiteren Verantwortung und geht mit ihrer kleinen Tochter Marlene und deren Vater nach Hamburg. Vera wird in dem alten Haus bleiben, auch nachdem sie studiert und in der Nähe eine Zahnarztpraxis eröffnet hat. Nach Karls Tod mit über 90 Jahren ist sie Erbin des Fachwerkhauses, das sie ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter kaum zu verändern wagt. 

Das alles ist jedoch Vorgeschichte - die eigentliche Geschichte beginnt, als sechzig Jahre später plötzlich wieder zwei Flüchtlinge vor der Tür stehen: Marlenes Tochter Anne mit ihrem kleinen Sohn Leon. "Anne ist aus dem nahen Hamburg-Ottensen geflohen, wo ehrgeizige Vollwert-Eltern ihre Kinder wie Preispokale durch die Straßen tragen. Und wo ihr Mann eine Andere liebt ..." (Rückseitentext).  "Vera, die raubeinige Zahnärztin und Anne, die verkrachte Musikerin, haben mehr gemeinsam, als sie ahnen. Beide fühlen sich nirgends zugehörig, beide kämpfen mit einer Vergangenheit, die alle Frauen in ihrer Familie hat erstarren lassen. Als sie beginnen, das Haus zu renovieren, geraten die Dinge in Bewegung" (Klappentext).

Der Roman - Dörte Hansens Debütroman - liest sich flüssig, auf den ersten Blick habe ich ihn als guten Unterhaltungsroman eingestuft, ohne es abwertend zu meinen. Durch seine Vielschichtigkeit und den raffinierten Aufbau geht "Altes Land" jedoch weit über einen Unterhaltungsroman hinaus - großartige Literatur, die haften bleibt. Dabei schreibt Dörte Hansen durchaus spröde; das dürfte den wortkargen Menschen mit ihrem trockenen Humor, die dort seit Generationen leben, angemessen sein. Eine metaphernreiche, blumige Sprache würde nicht in diese Landschaft passen. Trotzdem gelingt es Dörte Hansen, mit wenigen Skizzen (Beschreibung von Gesten und Gewohnheiten, wörtliche Rede) Menschen für die Fantasie der Leserin, des Lesers lebendig zu machen. Köstlich gezeichnet (mit leichter satirischer Überspitzung) ist die Figur des "Neubürgers" Burkhardt Weißwerth, der aufregende Reportagen vom Landleben für die von ihm begründete Zeitschrift "Land & Lecker" schreibt; unterstützt wird er von seiner Frau Eva mit ihrer "Marmeladen-Manufaktur". Gewissermaßen eine Hauptfigur ist das alte Fachwerkhaus; auf einem Balken steht "Dit Huus is mien und doch nich mien, de no mi kummt, nennt't ook noch sien" - ein Spruch, der sich wie ein Leitfaden durch das Buch zieht. "Sie schien ihr Haus nicht zu besitzen", heißt es von Vera, "es war wohl eher andersrum. Vera gehörte diesem Haus".
Bewundernswert finde ich das "Zeitmanagement" der Autorin: Viele äußerlich ach so wichtige Ereignisse werden besonders am Anfang nur gerafft dargestellt, was innerlich wichtig ist, bekommt mehr Raum und Atem. Später gibt es immer mehr Rückblicke, was mich zunächst gewundert hat - aber ich habe inzwischen verstanden, dass sich darin genau das widerspiegelt, was den Fachberichten nach mit traumatisierten Menschen passiert - spät kommt das Verdrängte wieder hoch, manchmal erst in der nächsten Generation. Geschickt finde ich außerdem, dass von Anfang an auch Annas Geschichte geschildert wird, zunächst in jedem zweiten Abschnitt, sodass zwei Zeitebenen ineinenander verschränkt sind - das erhöht die Spannung beim Lesen.

 Nicht nur um Flüchtlinge geht es in diesem Roman - es geht, allgemeiner noch, um das Fremdsein: das Fremdsein gegenüber einem Ort, einer Landschaft, das Fremdsein gegenüber anderen Menschen und das Fremdsein sich selbst gegenüber. Ein Wandel ist oft nur mühsam und unter Schmerzen möglich.

Dörte Hansen hat Linguistik studiert und sich immer für andere, teils seltene Sprachen wie Gälisch und Baskisch begeistert. Sie arbeitet als Journalistin und Redakteurin und lebt selber im Alten Land. Die Lektüre ihres ersten Romans möchte ich nachdrücklich empfehlen.

Dörte Hansen: Altes Land. Roman. Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 288 Seiten, 13,5 x 21,5 cm. Albrecht Knaus bei Random House, München 2015. ISBN: 978-3-8135-0647-1
€ 19,99 [D] | € 20,60 [A] | CHF 26,90 * (* empf. VK-Preis)

Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; das Bild zeigt die Titelgestaltung des Verlages.

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