bergkette zwischen revolution und konterrevolution: auf skiern über den kaukasus

9783906055442.MAIN_dc28bced6cVor dem Fußball-EM waren sie fast täglich in den Schlagzeilen: russische Athleten und der Dopingverdacht. Abgesehen davon, dass vermutlich Athleten aus allen Nationen dopen, bekamen russische Sportler zum letzten Mal so viel Aufmerksamkeit, als die Winterspiele in Sotschi vor der Tür standen.

Allen Zweiflern und Kritikern zum Trotz schaffte es Gastgeber Russland vor zwei Jahren, rechtzeitig eine moderne und funktionierende sportliche Infrastruktur für die Olympiade fertig zu stellen. Tatsächlich gerieten die Spiele für Putin und Konsorten zu einer Art „Nullstellung“: „vergessen wir, was war, starten wir neu und blicken nach vorne“, schien die Botschaft aus dem Kreml zu lauten!

Der Preis: 51 Milliarden Dollar machten die Winterspiele von Sotschi zu den teuersten der Geschichte. Eine Entwicklung, die nicht nur Bewohner sondern auch künftige Gastgeberländer misstrauisch gemacht hat.

Um so interessanter sind die Reiseberichte von Mario Casella: der Journalist, Bergführer und Kaukasus-Liebhaber setzte ebenfalls einen ehrgeizigen Plan um und überquerte die 1000 Kilometer lange Bergkette abseits von Schlagzeilen und Medienrummel – auf Skiern. Ein Vorhaben, das wohl vorher und nachher noch niemand glückte und das selbst kaukasische Bergbauern für verrückt halten.
Mit seinem neuen Buch „Schwarz Weiss Schwarz. Eine abenteuerliche Reise durch das Gebirge und die Geschichte des Kaukasus“ lässt uns Mario Casella an seinen außergewöhnlichen Erfahrungen teilhaben.

Die Gegenden um den Gebirgszug sind nicht nur ein „geopolitisches Wespennest“ und ein ethnischer Fleckerlteppich, wo für Reisende in fast jeder Region eigene Durchreisegenehmigungen nötig sind und unverfrorene bürokratische Herausforderungen warten – auch die Schneeverhältnisse zeigten sich vor Ort oft anders als erwartet: mal waren ganze Strecken schneefrei, mal war die Lawinengefahr einfach zu groß. Zäher Wille und Flexibilität waren gefragt!

Casella und sein Begleiter nahmen alle Strapazen auf sich – aus Liebe zur Region, aus reiner Abenteuerlust und last but not least um einer großflächig unerschlossenen Gegend ein paar neue, unbekannte Erkenntnisse und Antworten abzutrotzen. Die, so erklärt der Autor, bekommt man nämlich nur, wenn man abgelegene Ecken mit Skiern aufsucht und so mit Menschen sprechen kann, die so gut wie nie mit Reisenden in Kontakt kommen.

Und tatsächlich gibt das Buch spannende, traurige, überraschende, auf jeden Fall tiefgreifende Einblicke in ein Gebiet zwischen schwarzem Fels, weißem Schnee, zwischen schwarzem Meer und weißem Strand. Eine Region, über die bisher vor allem Alpinisten und faszinierte Globetrotter berichten und Zeitungen eben nur dann, wenn es einen sportlichen oder musikalischen Wettbewerb, eine Geiselnahme wie in Beslan oder separatistisch motivierte Anschläge gibt. Freiheitskämpfe, Krieg und Terror haben eine lange Tradition im naturschönen Kaukasus. Sieben Kriege waren es alleine nach dem Zerfall der Sowjetunion, die im Winkel von Georgien, Armenien, Aserbaidschan und Russland wüteten.

„Nach dem Zusammenbruch der Sojwetunion stand die Bevölkerung einer ausartenden Modernisierung und der Rückkehr der russischen Zentralmacht in Form eines wirtschaftlichen Neokolonialismus gegenüber“, weiß Mario Casella – eine Entwicklung, die bis heute anhält. Davon zeugen zahlreiche Grenzposten, Funkantennen und Kasernenanlagen in abgelegensten Tälern und vor allem viele alte, aber auch neuere Wunden im ethnischen Gedächtnis von Tschetschenen, Tscherkessen, Lesginen, Rutulen, Darginern und schier unzähligen weiterer Volksstämmen.

Die einzelnen Berichte und Geschichten im Buch stammen zwar nicht alle von dieser einen Reise, doch abgesehen von „wintersportlich ambitionierter“ Bauwut ändert sich nicht allzu viel auf den Gipfeln und in den Tälern zwischen Baku und Sotschi.

Genau in Baku sollte die waghalsige Ski-Überquerung beginnen, doch gleich beim Start der Reise, gab es die ersten Hindernisse und notwendige Routenänderungen. Trotzdem gibt es einen spannenden Bericht von der Stadt, die vor gar nicht all zu langer Zeit im Rampenlicht des Eurovision Songcontest gestanden hat.

Abseits der Scheinwerfer blickt Baku nämlich auf eine äußerst bewegte und denkwürdige Geschichte zurück: hier sprudelt Erdöl in beträchtlichen Mengen und die Globalplayer der Erdölindustrie buhlen um ihre Vormachtstellungen, selbst die Wehrmacht hatte den Auftrag, dem deutschen Reich hier Förder-Pfründe zu sichern.

Statt in Baku beginnt die Reise also auf russischem Territorium, in Machatschkala. Am Abend vor dem Aufbruch erfährt der Autor aus den Nachrichten, dass 30 Kilometer südlich der Stadt islamische Terroristen von Spezialeinheiten der russischen Armee in einen Hinterhalt gelockt und erschossen wurden – am nächsten Morgen führt die Route genau an dieser Ortschaft vorbei…

Nicht problemlos aber etwas erfreulicher ist die nächste Geschichte: Mario Casella erzählt, dass sein Interesse für den Kaukasus durch ein Kammerorchester geweckt wurde – ein Zeitungsartikel berichtete von einem deutschen Orchesterleiter, der ganz für seine Vision lebte, mit Musik die Völkerverständigung der Kaukasus-Repuliken zu fördern, die seit Jahrzehnten in blutigen Konflikten leben.

Mit viel Idealismus, Geduld, Trotz und Diplomatie verfolgte Uwe Berkemer aus Hessen sein Ziel und scheiterte nicht selten an Ressentiments, Paranoia und Bürokratie. Im Sommer 2007 konzertierte das Orchester in Eredvi, einer kleinen Ortschaft in Südossetien – einige Monate später wurde der Konzertsaal bei heftigen Kämpfen zwischen Separatisten Ossetiens, die von der Armee aus Moskau unterstützt wurden, und georgischen Soldaten dem Erdboden gleichgemacht.

Konflikte dieser Art begleiten die gesamte Reise vom Kaspischen ans Schwarze Meer und überall erzählen die Menschen dem Autor grausige Geschichten von Willkür und Demütigung – egal, ob sie in einer Großstadt oder in einem winzigen Bergdorf leben.

Die Befestigungsmauer von Derbent, der Löwe von Dagestan, türkische Bäder in Tiflis, der Staub von Grosny, Uranminen im Karmadontal, weltberühmte Fotografien von Vittorio Sella, das Unternehmen Edelweiß, die Bezengi-Mauer der Fünftausender, die Stalin-Villa in Sotschi – in jedem Kapitel Mario Casella verbindet „Wahrzeichen“, Personen und Denkwürdigkeiten der jeweils bereisten Städte und Regionen mit meist dramatischen und traumatischen Geschichte(n) von gestern und heute, lässt tief in die verwundete und gleichzeitig faszinierend vielfältig-schöne Seele des Kaukasus blicken.

„Es ist unglaublich: Wo du es im Kaukasus am wenigsten erwartest, lauert der Krieg hinter der nächsten Ecke, so als ob die Schneestürme das Leid bis zum Beginn der Gletscher tragen würden“. Mehr als einmal scheint den Ski-Wanderern der Zugang zu bestimmten Gegenden schlicht verwehrt, nur um einige (korrumpierte) Stunden später frei gegeben zu werden.

„Ein paar rasante Abkürzungen, eine wunderbare Gebirgslandschaft, ein Lärchenwald, der sich gegen den blauen Himmel abhebt und ein paar steile, mit Schnee überzuckerte Gipfel – es reichen ein paar Kehren, über die wir aufwärts fahren, und der Krieg liegt hinter uns. Die paradoxe Welt des Kaukasus ist in diesem Kontrast zusammen gefasst“, schreibt Mario Casella. Die Extreme spiegeln sich auch in der Art der Fortbewegung wieder: steilen Aufstiegen bei zweistelligen Minusgraden, Nebel und teilweise völliger Orientierungslosigkeit folgen atemberaubende Ausblicke und euphorische Abschwünge im Pulverschnee.

Auch frühen Autoren, die den Kaukasus bereisten – zum Beispiel Tolstoi und Alexandre Dumas – sowie Pionieren des Kaukasus-Alpinismus sind einige Kapitel gewidmet. So schreibt Douglas W. Freshfield, einer der ersten Forscher, die das Gebiet bereisten, im Jahr 1888: „Ist der Kaukasus gleich schön wie die Alpen? Wer die Umgebung der Berge liebt, der wird die Alpen vorziehen. Der Kaukasus hat keine Seen; die südlichen Täler ähneln kaum denen der italienischen Alpen; die nördlichen, oberhalb der Schluchten und unterhalb der Gletscher sind weniger abwechslungsreich und anziehend als die der Schweiz. Die beste Art und Weise, die Unterschiede zusammenzufassen, ist es, den Kaukasus als weniger malerisch, aber viel romantischer zu beschreiben.“

Expediteur Andreas Fischer formuliert es einige Jahre später so: „Hier, im Centralkaukasus, treten uns die imposantesten Riesen des ganzen Gebirgszuges entgegen. Sie übertreffen die Alpen an Großartigkeit und Wildheit, und diese beiden Eigenschaften bilden Hauptcharakter des Kaukasus.“

Mario Casella schenkt uns mit „Schwarz Weiss Schwarz“ einen Reisebericht der besonderen Art und stellt eine Vielvölkerlandschaft vor, die zwar nicht mehr vom eisernen Vorhang verdeckt wird, uns Westeuropäern aber nach wie vor auf eigene Art verborgen scheint.

Möglicherweise ändert sich das nach Sotschi schneller als gedacht: zumindest Wintersportler und Umweltschützer richten den Fokus vermehrt auf die bereits vermüllten Pisten der 4000er – der Tourismus scheint profitabel auf dem Dach Europas. Neue Straßen, moderne Kabinenbahnen und Liftanlagen sowie schnell aus dem Boden sprießende Luxushotels zeichnen einen neuen Trend. Nach den Kriegen ums schwarze Gold lockt der Profit mit dem weißen Gold.

Noch beherrschen Korruption, ethnische Konflikte und in der Folge politische Instabilität große Teile der Kaukasus-Region, doch es bleibt die Hoffnung, dass sich in den kommenden Jahren nicht nur die geopolitische Situation beruhigt, sondern sich auch menschengemachte ökologische Katastrophen vermeiden lassen.

Ich jedenfalls bin seit diesem Buch für die Naturschönheiten und das reiche kulturelle Erbe des Kaukasus positiv sensibilisiert. Am liebsten möchte ich selbst zur Reise aufbrechen und den Kaukasus erkunden – laut meiner Großmutter kommen meine Vorfahren von dort. Eins ist allerdings klar: eine Ski-Überquerung wird diese Reise sicher nicht!

Mario Casella „Schwarz Weiss Schwarz. Eine abenteuerliche Reise durch das Gebirge und die Geschichte des Kaukasus“, 304 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, 26 Euro 90, AS Verlag



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