Bändigung eines wilden Flusses: Die Rheinbegradigung durch Tulla

In seinem Buch „Die Eroberung der Natur" beschreibt David Blackbourn die Geschichte der deutschen Kulturlandschaft. Rhein, Oder und auch die Nordseeküste sind heute Zeugnisse weitreichender Eingriffe des Menschen in die Natur. Tatsächlich beeinflusste die Trockenlegung von Mooren, das Begradigen von Flüssen und das Roden von Wäldern die Geschichte Deutschlands in den letzten 250 Jahren ganz erheblich. In Kapitel zwei seines Buches beschreibt Blackbourn die Begradigung des Rheins durch Tulla. Dieser Text ist eine grobe Zusammenfassung des Kapitels und soll eine Empfehlung zur Lektüre des ganzen Buches darstellen.

Noch bis ins 19. Jahrhundert, war der Anblick des Rheins ein völlig anderer als heute: Anstelle eines einzigen festen Bettes grub sich der Fluss im südlichen Oberrheingraben, in der sogenannten Furkationszone (eine Zone der mehrfachen Flussgabelung) in unzählige Rinnen, die durch Kies- und Sandbänke voneinander abgetrennt waren. Ein Zyklus aus Hochwassern veränderte im Lauf der Jahrhunderte und im Wechsel der Jahreszeiten dieses Labyrinth, das eher aussah wie eine Lagunenlandschaft als eine Wasserstraße. Flussabwärts, nördlich der Einmündung der Murg, begann die sogenannte Mänderzone. Dort vereinigte sich der Rhein zu einem großenteils einheitlichen Strom, der jedoch in sich verändernden Schleifen durch eine Auenlandschaft zog. Aufgrund der unterschiedlichen Fließgeschwindigkeit des Wassers in diesem kurvigen Flussverlauf kam es zu Zonen mit unterschiedlich starker Erosionskraft, sodass sich der Fluss hier immer wieder ein neues Bett suchte. An manchen Stellen im Oberrheingraben erstreckte sich das Flusstal in einer Breite von bis zu 40 Kilometern.

Unter dem Einfluss dieses Großteils unberechenbaren Flusses lagen die meisten menschlichen Siedlungen beiderseits des Rheins am Rand des Hochufers, mit Blick auf die Auenlandschaft. Andere Orte, die näher an den Fluss rückten, weil sie beispielsweise vom Fischfang lebten, gingen immer wieder unter. Zahlreiche Orte sind so in den Jahrhunderten verschwunden, teilweise erinnern heute Flurnamen an sie. Das Leben mit dem Fluss in seiner sich ständig wandelnden Gestalt führte zu einer Reihe von Begriffen, um die verschiedenen Arten von Nebenarmen, Rinnen und Altwassern zu benennen: Altrhein, Gießen, Kehlen, Schlute, Lachen. Für das trockene Land jenseits der Mäander gab es Begriffe wie Aue, Wörth (Werder), Grund oder Bruch. Viele dieser Begriffe finden sich bis heute in den Landkarten der Gegend.

Schon seit dem 14. Jahrhundert hatte es immer wieder kleinere Versuche gegeben, den Verlauf des Rheins besser zu kontrollieren. Zahlreiche Durchstiche wurden über die Jahrhunderte durchgeführt. Die großangelegte Begradigung des Rheins war jedoch eine Mammutaufgabe, die schließlich aufgrund mehrerer Faktoren immer dringlicher erschien. Der Fluss stellte eine zunehmende Bedrohung dar, nicht nur aufgrund des Bevölkerungswachstums in der Region, sondern auch da sich das Flussbett begann anzuheben, da Geschiebe und Sediment nach und nach weiter flussabwärts verfrachtet und abgelagert wurden. Zum Ende des 18. Jahrhunderts begann die südliche Mäanderzone zunehmend das Bild des wilden Rheins weiter flussaufwärts anzunehmen. Hinzu kamen Klimaschwankungen und Wetterphänomene die mit der sogenannten kleinen Eiszeit zwischen 1550 und 1850 in Zusammenhang standen. So kam es zwischen 1760 und 1790 zu einer Serie besonders regnerischer Sommer, die zu immer schlimmeren Überschwemmungen führten. Schließlich führte die zunehmende Zahl unkoordinierter Versuche den Rhein zu bändigen und von den eigenen Flurstücken fernzuhalten, zunehmend zu Konflikten zwischen den Anrainern des Flusses.

Andere Faktoren begünstigten die Begradigung des Rheins: Durch die Eroberungen Napoleons Ende des 18. Jahrhunderts nach der französischen Revolution wurden erstmals großflächige Staaten geschaffen, wo es zuvor einen Flickenteppich kleiner Fürstentümer gegeben hatte. Baden (rechtsrheinisch) und Frankreich (linksrheinisch) waren schließlich die einzigen Verhandlungspartner, die sich auf die neue Lage des Flusses und die Verteilung des gewonnenen Landes einigen mussten. So konnte Tulla, ein Wasserbauingenieur, der in Karlsruhe studiert hatte, auf den Plan treten. Er handelte im Interesse des Landes Baden, das sich durch die „Rektifizierung" des Rheins auch ein identitätsstiftendes Projekt, das den gesamten jungen Staatsapparat beanspruchen sollte, versprach.

Das Ausmaß der Maßnahmen übersteigt das menschliche Vorstellungsvermögen: Der Fluss wurde zwischen Basel und Worms um fast ein Viertel seiner Länge, von 345 auf 273 Kilometer verkürzt. 2200 Inseln im Fluss wurden beseitigt. Konkret wurden an zahlreichen Stellen Durchstiche vorgenommen, um die zahlreichen Schleifen des Flusses zu beseitigen. Dazu wurde zunächst ein Leitgraben mit einer Breite von 18 bis 24 Metern entlang des neuen Verlaufs ausgehoben. Dann wurden an den beiden Enden die Verschlüsse entfernt und das Wasser konnte, dem Weg des geringsten Widerstands folgend, die kürzere (und steilere) Strecke nehmen, und durch seine Erosionskraft das Bett weiter verbreitern und vertiefen. Seitliche Altrheinarme wurden durch Dämme abgetrennt. Der Prozess eines solchen Durchstichs dauerte im Schnitt 5 Jahre - konnte aufgrund ungünstiger Bedingungen (die geringe Mechanisierung der Arbeiten, zähe Lehmschichten, die die Erosion verlangsamten) aber auch bis 50 Jahre dauern.

Zudem kam es - ähnlich wie bei heutigen Großprojekten - zu Widerstand in der Bevölkerung. Aus Angst vor wachsender Überflutungsgefahr oder dem Verlust von Land gingen die Menschen in manchen Orten auf die Barrikaden (zum Beispiel in Knielingen bei Karlsruhe), während an anderer Stelle, wo der Fluss endlich seine Gefahr verlor, große Begeisterung herrschte. Teilweise mussten die Arbeiten von Soldaten geschützt werden. Tulla selbst ist für seine wenig sensible Art im Umgang mit Kritik bekannt, sei es aus der Bevölkerung, der Politik oder von Fachkollegen.

Ob die Begradigung des Rheins nun ein großer Erfolg oder eher ein Fehler war, ist schwierig zu beantworten. Natürlich ist ohne sie die heutige Entwicklung der Region undenkbar. Die Flussschifffahrt und die zahlreichen Industrieansiedlungen wären nicht möglich gewesen. Tatsächlich wurde die Hochwassergefahr in vielen Gebieten verringert und es kam zu großen Landgewinnen für die Landwirtschaft, die in der einsetzenden Industrialisierung eine steigende Bevölkerungszahl ernähren musste. Auch wurde die Malaria ausgerottet, die zuvor in einigen Orten entlang des Rheins endemisch war und jede Entwicklung der betroffenen Regionen lähmte.

Zu den Nachteilen gehört beispielsweise das Verschwinden des Rheingolds. Tatsächlich gab es entlang des Flusses hunderte Menschen, die von der Goldsuche lebten. Durch das Verschwinden der Kiesbänke und der erhöhten Fließgeschwindigkeit wurden jedoch immer kleinere Mengen Goldes abgelagert und auch gefunden. Auch die Rheinfischerei erlebte einen Niedergang, der Lachs und zahlreiche andere Arten verschwanden, sie wurden Jahre später durch „robuste" Arten wie dem Aal oder Zander ersetzt.

In einem größeren Zusammenhang lässt sich feststellen, dass in der Folge - im Verlauf von 150 Jahren - rund 85 % der Oberrheinauen verloren gingen. Die Verkleinerung und Zerschneidung dieses Habitats führte zu einem starken Artenverlust. An manchen Stellen grub sich der neue Fluss tiefer als erwartet in sein neues Bett ein, dies bewirkte ein Absinken des Grundwasserspiegels und damit eine Verwandlung der Auen in trockenes Grasland. Dramatisch waren die Folgen für die nördlich gelegenen Zonen entlang des Mittel- und Niederrheins: Hier wuchs durch die gesteigerte Fließgeschwindigkeit im Oberlauf das Hochwasserrisiko, beispielsweise in den Städten Koblenz, Bonn und Köln. Diese Städte liegen unmittelbar am Fluss, da Mittel- und Niederrhein in früheren Zeiten deutlich seltener der Gefahr eines Hochwassers ausgesetzt waren als die Gemeinden am Oberrhein.

Andere Folgen sind weniger direkt auf die Rheinbegradigung Tullas zurückzuführen und eher mit der dadurch ermöglichten Industrialisierung und Intensivierung der Landwirtschaft verbunden. Erst um 1970 wurden die negativen Folgen der zunehmenden Kanalisierung des Rheins einer breiten Öffentlichkeit bewusst. Seitdem wird versucht, beispielsweise durch das Anlegen von Poldern, die Zeit teilweise wieder etwas zurückzudrehen und den Fluss ein Stück weit zu befreien.

Das Buch: David Blackbourn, "Die Eroberung der Natur - eine Geschichte der deutschen Landschaft", dritte Ausgabe von 2008, erschienen bei Pantheon.


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