99. Der Rezensent, der einen Eid geschworen hat…

Was als erstes ins Auge springt, wenn man in diesem schweren, schön gemachten, eigenwilligen Buch blättert, das sind die Zeichnungen. Mit größter Sorgfalt scheint ihr Gestrichel Gegenstände wiederzugeben, die irgendwie dem Bereich der Botanik oder eines untergegangenen Handwerks zugehören, nicht allzu groß, aus einem harten, aber bildsamen Stoff gefertigt, von einem schlichten Grundmodell her zu hoher Komplexität getrieben. An verholzte Fruchthülsen erinnern sie, an jene Futterale, die zurückbleiben, nachdem man Paranüsse oder Sternanis daraus entfernt hat. Aber man könnte beim besten Willen nicht sagen, was man hier sieht; es sind Produkte einer ebenso präzisen wie fantastischen Konkretion. Hier hat der Stift etwas geschaffen, das Anspruch erhebt, daraufhin unwiderruflich in der Welt zu sein.

Wenn man diese Grafiken eine Zeitlang auf sich hat wirken lassen, ist man vorbereitet auf die Texte, die ihnen Oswald Egger beigegeben hat. Denn mit seinen Wörtern und Worten verfolgt er ganz ähnliche Absichten wie mit seinem Zeichenstift. Man schlage den Band auf, wo man will. Immer und abwechslungsfrei stößt man auf Sätze wie diese:

‘Die Felberpappel wispelt fast, und ein Wasserfall aus Mond- und Nebensonnen spierlt lichte Fäden in den Fäng`chen und Fingern schwarzgrauer Arven. Ich weiß, im Schatten dieser Vogelkiefern habe eine fast Kannen-Karawane von Schnäbeln verkauert, fransenbeschwänzt, mit einer Harpe von Krallen zerfedert und übertrommelt.’

(…)

Der Rezensent, der einen Eid geschworen hat, niemals die Lyrik von Paul Celan und ‘Finnegan“s Wake’ anzufassen, hat sich hier, was er sonst nie tut, gestattet, es bei der Partiallektüre zu belassen, etwa fünfzehn Prozent des Gesamtumfangs (mehr ging einfach nicht) – aber nicht, ohne sich hinlänglich überzeugt zu haben, dass Eggers Werk nach der allerersten keine weiteren Überraschungen bereithält.

Und dennoch: Oswald Egger hat sichtbar etwas gewollt, etwas Falsches und Unmögliches zwar; aber dieses Scheitern gehört ihm unverwechselbar (was mehr ist, als sich von den meisten deutschen Romanciers der ungefährdeten Mittellage behaupten lässt). Die Trauer darüber, dass es so hat kommen müssen, nimmt bei ihm die Form des Zitats an, merkwürdig genug bei einem, der sich sonst der bezuglosen sprachlichen Setzung verschrieben hat. Er holt die spätantike Theologie und Philosophie herbei, hebt an mit Augustinus und endet mit Boethius; und beide Passagen haben es mit der Gebrechlichkeit der Zeit zu tun, die es den Wesen nicht erlaube, jemals ganz da und zur Stelle zu sein, sondern sie zum Stückwerk der Sukzession verdamme, im Gegensatz zur einzig vollkommenen Ewigkeit Gottes. Auch der Titel des Buchs, ‘Die ganze Zeit’, erscheint da auf einmal im Licht der Dringlichkeit. / BURKHARD MÜLLER, SZ 13.4.

OSWALD EGGER: Die ganze Zeit. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 741 Seiten, 44,80 Euro.



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