52. Immer muss es ein Roman sein

Wer Texten vorwirft, dass er sie nicht versteht, wirft nun einmal zunächst sich selbst etwas vor. Was kann ein Text für das Lesevermögen seiner jeweiligen Leserinnen und Leser? Sicherlich gibt es Texte, deren Inhalt und Güte sich nur jenen erschließen, die über eine gewisse Leseerfahrung und Bildung verfügen – und über die Frage, ob dies so sein muss, lässt sich streiten. Dies jedoch ist nicht der Kern des Vorwurfs, der Jahr um Jahr gegen komplexe Texte allgemein und gegen Lyrik insbesondere vorgebracht wird. Diejenigen, die nicht bereit sind, sich mit einem kurzen Text länger zu befassen, als die reine Erfassung der Buchstaben braucht, machen Texten zum Vorwurf, dass sie sie nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. Sie werfen einem Text somit vor, dass er Arbeit macht.

Was sie stattdessen lesen wollen, ist, was sie schon kennen: einen Familienroman, einen Wenderoman, einen Roman über »Zeitthemen«. Immer muss es ein Roman sein, immer muss er literarisch einigermaßen belanglos sein, immer muss er behandeln, was man schon kennt. Sexszenen sollten auch drinstehen. Die Erkenntnisse, die man als Leserin und Leser solcher Bücher haben kann, sind dementsprechend. Wer ohnehin nicht wissen will, was »die Wende« war, wird es auch aus einem Wenderoman nicht herauslesen können. Wer in einem Roman »über Asien« nichts anderes lesen will, als dass die moderne Welt irgendwie seltsam ist, und dass Männer und Frauen irgendwie nicht zusammenpassen, sich aber trotzdem lieb haben sollten, der will »über Asien« nichts wissen, sondern sucht für seine Re-Lektüre des Immergleichen nur ein neues »exotisches« Ambiente.

So argumentieren die Feindinnen und Feinde des Intellekts seit Jahrhunderten, nicht erst seit 1933. Doch mit der Auslöschung und Selbstauslöschung der bürgerlichen Klasse und des selbstbewussten Proletariats fand der Krieg gegen die Moderne und gegen die Komplexität nun auch in den gehobenen Feuilletons statt, und, in völliger Verklärung eines zur eigenen Lesefaulheit gut passenden Volksgeschmacks, nach 1945 auch auf Seiten der Linken. Als 1968 Hans Magnus Enzensberger, Walter Boehlich und Karl Markus Michel wohlbegründet nach der Rolle des Autors fragten und mutmaßten, er sei vielleicht gestorben, machten die Feindinnen und Feinde der Literatur daraus gleich den Tod der Literatur. Das fanden sie gut, auch wenn sie zunächst greinten. / JÖRG SUNDERMEIER, Jungle World 

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André Breton sah es so:

Dagegen erscheint mir die realistische Haltung, seit Thomas von Aquin bis zu Anatole France vom Positivismus inspiriert, als jedem intellektuellen und moralischen Aufschwung absolut feindlich. Sie ist mir ein Greuel, denn sie ist aus Mittelmäßigkeit gemacht, aus Haß und platter Selbstgefälligkeit. Aus ihr resultieren heute diese lächerlichen Bücher, diese beleidigenden Theaterstücke. Ständig holt sie sich Rückhalt in der Tagespresse und bringt Wissenschaft und Kunst in Verlegenheit, indem sie sich bemüht, dem niedrigsten Geschmack der allgemeinen Meinung zu schmeicheln: an Dummheit grenzende Klarheit, das Leben von Hunden. Noch im Wirken der besten Köpfe macht sie sich bemerkbar; das Gesetz der geringsten Anstrengung drängt sich ihnen am Ende auf wie allen anderen auch. Eine belustigende Folge dieses Tatbestands ist in der Literatur zum Beispiel die Überfülle von Romanen. Jeder steuert da seine kleine „Beobachtung“ bei.

Aus: Erstes Manifest des Surrealismus. In: Günter Metken (Hg.): Als die Surrealisten noch recht hatten. Texte und Dokumente. Hofheim: WOLKE Verlag 1983, S. 24.



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