47. Das Maß allen Lebens ist die Axt, sagt der Baum

Rezension eines Gedichtbands von Martin Bernhardt

Von Michael Gratz

Die Axt, die das Leben der Bäume beendet, ist eine seiner Bildfindungen, die er in mehreren Texten verwendet. Das Gedicht „Abseits der Grenzen“ entstand im Oktober 1983, da war er 22 Jahre alt:

Abseits der Grenzen
steht neben der Mauer
eine zweite Mauer
dazwischen wächst Gras
wird der Tau kommen
wird das Gras blühen
dann singt der Strom in den Zäunen

Wird der Tau trocken
wird das Gras welk
wächst ganz woanders ein Baum
der von allem nichts weiß

Werden die Männer kommen
werden den Baum sehen
auf dem etwas sitzt und ruft

Wird einer zu fällen beginnen
wird der Baum sagen
das Maß allen Lebens
ist die Axt

Der Band, der „fast alle im Nachlaß gefundenen Gedichte“ und einige Mail-Art-Karten sowie Fotos und Materialien enthält, umfaßt 80 Seiten. Die Gedichte stammen aus den Jahren 1978 bis 1996, die meisten aus den 80er Jahren. Der Titel ist eine Variante des Axt-Bildes:

„Das Maß allen Lebens ist die Axt, sagt der Baum.“

Die frühesten Gedichte stammen aus seinem 17. Lebensjahr – 6 Gedichte insgesamt. Nicht eins davon liest sich wie ein Anfängergedicht, wie man sie so oft zu lesen bekommt. Das scheint eine Greifswalder Spezialität. Die in Greifswald lebende Barockdichterin Sibylla Schwarz starb mit 17 Jahren und wurde zu Recht als „ein Wunder ihrer Zeit“ gerühmt. Mit 17 war sie besser als Goethe, habe ich mal geschrieben. Und es stimmt. Heute werden ihre Gedichte in vielen Ländern gelesen. Mit dem Wort „Wunder“ haben wir es heute nicht so sehr, aber Martin Bernhardt war ein Frühvollendeter. So schrieb er mit 17:

 

Was KEINER WEISS

 

Wie Gras sein
Wie Grenzen der grünen Gewalten

Wirf mir deine Hand zu Wald
Nimm mich auf
In wallenden Wogen
Verwurzel die grünen Gewölbe
Wir wollen wieder wissen
Woher der Wind weht
In dem wir uns nicht wenden
Widerwärtig was ihr da redet
Welcher Verlockung
Wollt ihr mich entwenden
Wenig was ihr noch erwartet
Ich aber wohne in wirklichen Welten
Was da welk war
Wird sich wohlig verwachsen
Wie wunderbar diese Wende
Weil es Wunder gibt
Wie Wald

 

Sibylla Schwarz lebte während des 30jährigen Krieges und mußte als Kind nacheinander die marodierenden kaiserlichen und schwedischen Truppen erleben. Martin Bernhardt lebte im tiefsten Frieden in der DDR, also in einem Land, das wildwachsendem Talent mißtraute. Selbstgedruckte Gedichte oder künstlerische Experimente wie Performance oder Mail Art erregten den Argwohn der Oberen. Ein Heer von Spitzeln wurde auf undomestizierte Talente gehetzt. Hätte er in Berlin gelebt, hätte er vielleicht zur dortigen Undergroundszene gefunden, die in diesen Jahren gewisse Freiräume gewann. Uwe Kolbe oder der aus Greifswald geflohene Bert Papenfuß konnten sich dort trotz Bespitzelung und Schikanen mit Gleichgesinnten entwickeln. Die Szene in der Provinzstadt wurde unbarmherzig verfolgt. In Ermangelung wirklicher Staatsfeinde hielt man sich an die unangepaßten jungen Leute.

Martin Bernhardt nahm die Gängelung mit wachen Sinnen wahr. Seine Gedichte sprechen oft von Bedrohungen und Grenzen. Der von der Kälte bedrohte Vogel, die Staatsgrenze an der Ostsee, über die nur die Wolken und die Gänse hinwegfliegen können. Im Gedankenspiel macht er es ihnen nach, im Gedicht „Steilküste“:

Wenn die Scheinwerfer / der Grenzboote / das Meer absuchen nachts / sehe ich in Gedanken / ihre / Rücklichter.

Trauer begegnet in diesen Gedichten und nicht selten der Tod. Aber meist verbunden mit Aufbegehren. Eine Mail-Art-Karte von 1988 zeigt den Grabstein Gerhart Hauptmanns auf Hiddensee. Auf dem Bild ist „GERHART“ und „MANN“ durchgestrichen und dafür etwas hinzugefügt, man liest: HAUPT sache Leben. Noch auf dem Grabstein der Einspruch gegen den Tod.

Ein Gedicht von 1984 trägt den Titel „Blues“. Ja, man hat den Blues, aber, ja, man kann versuchen, sich dagegen zu wehren. Das Gedicht endet so:

füg dich nicht in der Dinge Lauf
Steig mit mir aus, noch diesen Tag
steig mit mir aus, auf daß ich mag
dann diesen Blues

Nicht immer gelingt das Aufbegehren, Resignation und der Ausweg SELBSTMORD stehen am Weg:

Herbst

Hat man von den Wiesen abgeschabt das Gras
hat man im Wald das Holz gefällt, das Reh erschossen
hat man im Turmkeller den Heurigen genossen
und die Alten still ins Grab gebracht

Darf man sich nun auf den Winter freuen
darf erwarten weißen Schnee, das Eis und
Erlösung durch den Schluss
da man ja nicht immer sein muß.

Die Gedichte ab 1985 werden schärfer. Der 24jährige zieht Bilanz.

Gefrierpunkt nun

So beieinander
kein Zusammensein mehr.

Betroffen bemüht
den Abstand zu
vielleicht der Angst halten.

Einer hatte gesungen
sagst du
ein anderer nannte
beim Namen das Lied.

Wohin uns das geführt hat?

Dorthin
und zurück
was schwerer fiel
dem, der noch zu verlieren hatte
den Glauben und die Stille
des Wartens.

Der Versuch des Aufrichtens
danach
der Hals mit dem Kopf
die Gliedmaßen heil
der Bruch sitzt tiefer.

Die Sondierung des Standortes ergibt
im Abseits.

Die Frage nach dem Dasein
schließt Dableiben aus.

Also wohin betten
Das Haupt
Den Schoß, die Kinder.

Im Schatten der Platz
die grelle Versprechung
ihn einzunehmen
mit dem Blick
der anerkennt
schafartiges Dasein.
Ja, Lutz, der Wolf steht
da – wie zu Lebzeiten
in Feldgrau
im Zentrum.
Ist austauschbar
der Staat nicht
der Standpunkt
verloren
wie’s scheint
gibt preis sich
das Denken
nicht mehr.

Den Vorgang vermerkt man
in Kaderakten doch
besser nicht.
Es sieht ja aus
so durch und durch
nach Heimat
inmitten Deutschlands
doch davon
zu reden ist
ein wenig zu zeitgemäß
in den letzten
eintausend Jahren.
Die sind ja vorüber.

Schön war es, die Stimme
zu heben.
Doch gleitet das ab
was ich, indem
ich überleg
nicht sag.
Was, wenn man mich
womöglich doch
wieder falsch
versteht.

Denn geschult war
ihr Ohr sicher
nicht auf unsere Sprechweise.

Denn es gehörte
ja doch nie richtig
dazu
ein Kopf.

DIE EIGENE STIMME – so der Titel einer Anthologie  von DDR-Lyrik aus jener Zeit. Aber die Stimme Martin Bernhardts wurde nicht zugelassen, sie verstanden sie wieder falsch. Es war das Jahr der Verhaftung, der Verhöre, der Zelle im Stasiknast. Der Berliner Freund Richard Pietraß schreibt ein Geleitwort:

Überschaue ich Martin Bernhardts stolzes Leben von seinem jähen Ende her, spüre ich die Not, die diesen Sensiblen und Begabten in den Tod trieb. Von sich selbst verratenden Verhältnissen gefordert, verhaftet und vom Studium ausgeschlossen, schien die Wende das ihm Angetaine gutmachen zu wollen. Es genügte nicht, denn der Heiler war selbst ein Kranker. Auf seinem Boddensegler den Lethestrom kreuzend, bleibt er uns Kapitän und Dichter des Dennoch.

Ein Kapitän und Dichter des dennoch. Als der Staat DDR unterging, schrieb Wolf Biermann ironisch ein Lied zu seiner Rettung. Alles geht unter, der Lotse kotzt ins Rettungsboot, nur einer trotzt dem Sturm:

Er kam zurück von Westen her
Wolf Biermann rettet die DDR
im Kuddelmuddel mit starkem Arm …

Der Dissident übernimmt das marode Staatsschiff und steuert es fest und fröhlich in den Hafen „Kommune“.

Die gleiche Geste bei Martin Bernhardt. 1990 dreht er den Film „Der Dampfer“.

Ein Lied des polnischen Musikers Czesław Niemen ist auf der Tonspur des Films. Leute meiner Generation sind elektrisiert, wenn sie nur die ersten Takte hören.

In dem Film sieht man den Künstler, Martin Bernhardt, wie er sich bemüht, einen morschen Dampfer flott zu machen. Kein Helfer nirgends, er muß alles allein machen, zieht das Schiff ins Wasser, streicht den Bug mit ein paar Strichen frischer Farbe und ergreift das Steuerrad – der Dampfer hat gar keins mehr, egal, er nimmt ein großes Abzeichen der DDR-offiziellen vormilitärischen „GST“, Gesellschaft für Sport und Technik, und steuert den Dampfer damit.

Ach, Martin. Deine Gedichte lesend überfällt mich Trauer. Wir könnten Leute wie dich brauchen.

 



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