4. „ostdeutsch verwundet und westdeutsch / verwaltet“

Was bleibt, nach einem halben Leben in einem Land, das die existenzielle Heimatlosigkeit nie aufheben konnte, ist ein ätzender Sarkasmus. Es klingt wie ein bitterer Schlussakkord, wenn Drawert in einem New York-Zyklus aus dem Jahr 2010 noch einmal seine Biografie resümiert.

„Mein Land“, heißt es da, “mein Land war eine Rittmeisterpeitsche, / ein vergifteter Brunnen, Abfall vom Hund. / Ich werde es nicht mehr erwähnen, / ostdeutsch verwundet und westdeutsch / verwaltet, ich habe zu sprechen begonnen / und war sofort allein.“

Und dieser Vers lässt sich fast als Daseinsformel des Autors Kurt Drawert lesen: „Ich habe zu sprechen begonnen und war sofort allein“.
Denn die Geschichte des Sprechens ist bei diesem Dichter mit Traumatisierungen verbunden. Als Kind hatte Drawert unter dem autoritären Charakter seines Vaters zu leiden, einem Polizeioffizier, der dem widerborstigen Jungen die Alphabete des real existierenden Sozialismus einprügeln wollte, bis dieser ins zwanghafte Verstummen zurückfiel. Für sein Sprach-Versagen wurde der junge Drawert in die Dunkelheit des Kellers gesperrt, da er nicht willens schien, sich in die die Sprachregelungen des Staates einzuüben. Dort, in der Finsternis des Kellers, scheint sich das Misstrauen gegenüber allen fest etablierten Sprachordnungen ausgebildet zu haben, das den Schriftsteller Kurt Drawert geprägt hat, bis in die Mikrostruktur seiner Gedichte hinein. Das Zur-Sprache-Kommen, so hat es Drawert in seinen Essays immer wieder beschrieben, ist der Sündenfall. Die Alphabetisierung ist der Schrecken, denn sie ist mir Gewalt verbunden, mit der gesellschaftlichen Durchsetzung einer Herrschaftssprache.  …

In den ganz frühen Gedichten Drawerts ist als Vorbild auch der rebellische, ganz der Alltagsbeschreibung zugewandte Lyriker Rolf Dieter Brinkmann sichtbar. Die Orientierung des jungen Kurt Drawert an westdeutschen Autoren hat denn auch die frühen DDR-Leser irritiert. So erklärt sich auch die Verwirrung von Drawerts großem Förderer Heinz Czechowski, der 1987 ein Nachwort zu Drawerts Debütbuch „Zweite Inventur“ beisteuerte. Denn mit Drawerts kühlen Lakonismen, seinen akribischen Erkundungen eines Lebens, das sich aufzulösen beginnt, hatte man in der DDR der achtziger Jahre Schwierigkeiten. Hier sprach ein Autor ganz beharrlich vom „Privateigentum an Empfindung“ – und das war nicht mehr unterzubringen in einer Poetik, die auf eine unerschütterbare Ordnung der Kollektivität aus war. / Michael Braun, DLF

Kurt Drawert: „Idylle, rückwärts. Gedichte aus drei Jahrzehnten“
C.H. Beck, München 2011
272 Seiten, 19,95 Euro

[Mit Verlaub, das mit Czechowskis Verwirrung und unerschütterbarer Kollektivität ist aber, für mich, ein arges Klischee. "Was mich betrifft, so bin ich ich", dichtete der in den 70ern und nannte einen Gedichtband danach.]



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