'38 Reloaded

Jude, Jude, feiges Schwein / komm heraus und kämpf' allein!“ – Jene und teils noch schlimmere Parolen waren diese Woche auf deutschen Straßen zu hören.1Dass genau das nicht von vornherein verhindert wurde, beweist das Versagen der Exekutive in Deutschland und dass die Politik hierauf lediglich mit Bedauern reagiert, das der Legislative. Trotz allem wäre es zu einfach, sich hierüber zu empören. Denn wo ausführende sowie gesetzgebende Gewalt versagen, sollte man sich tunlichst an die rechtsprechende wenden. Das habe ich persönlich in der Vergangenheit nicht getan und schäme mich dafür. Allerdings ist das auch nicht immer leicht, da antisemitische Aussagen ja nur dann den Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllen, wenn sie öffentlich getätigt werden, was selten der Fall ist. Deshalb will ich mir mithilfe dieses Blogs die sog. Vierte Gewalt zunutze machen und einige der Aussagen, die mir in letzter Zeit begegnet sind, dokumentieren. Dabei möchte ich betonen, dass es sich bei dem, was ich im Folgenden beschreiben werde, ausdrücklich nicht um über Jahre hinweg gesammelte Erlebnisse handelt, die sich nun aus Anlass des wieder aufflammenden Nahostkonflikts explosionsartig entladen, sondern ausschließlich um Dinge, die mir innerhalb der vergangenen 10 Monate widerfahren sind – und was ich (be-) schreibe ist lediglich die Spitze des Eisbergs.
Da es mir sinnvoll erscheint, chronologisch vorzugehen, berichte ich zunächst von einer schockierenden Begebenheit während meiner Tätigkeit in einem schweizerischen Logistikunternehmen im Großraum Stuttgart. Nun sollte man sich bewusst machen, dass der Umgangston in vermutlich jedem Umschlaglager – vor allem aber offenbar dort, wo Männer unter sich sind – rau ist und die Grenzen des guten Geschmacks regelmäßig überschritten werden. So wurden bspw. türkische Mitarbeiter als „Eselficker“ bezeichnet und der Kollege mit Krebsdiagnose, dem aus ebendiesem Grunde ein Hoden entfernt worden war, trug fortan den Namen „eineiiger Zwilling“. All das entschuldigt jedoch nicht die Aussage eines der Vorgesetzten nach Beendigung der Raucherpause, mit welcher er offenbar die Angestellten wieder zur Arbeit zu motivieren gedachte. Zunächst wollte ich meinen Ohren nicht trauen, denn aus seinem Munde hörte ich die Worte: „Auf geht’s! Ihr wisst ja: Arbeit macht frei!“Nach einer ersten Schockstarre redete ich mir ein, dass der Betreffende, der jene Aufforderung in relativ gebrochenem Deutsch vorgetragen hatte, vielleicht aufgrund seiner ausländischen Herkunft nicht vertraut genug mit der deutschen Geschichte sei und deshalb nicht um die Signifikanz dieses Satzes wisse. Jedoch antwortete ihm einer der Schichtführer mit: „Ja, ja, jedem das Seine“, worauf ein Gelächter folgte, das gehässiger kaum hätte sein können.
Nun mag man das als einen all zu leichtfertigen Umgang mit der Geschichte der Schoa abtun. Allerdings begegneten mir vor Ort mit unbarmherziger Regelmäßigkeit antijüdische Verschwörungstheorien bis hin zu Parolen wie etwa „Sieg Heil!“ – und zwar aus dem Munde von Menschen, die sich selbst als Antirassisten bezeichneten und derartige Entgleisungen offenbar für Unterhaltung hielten.Einziger scheinbarer Lichtblick während dieser Zeit waren die beiden strenggläubigen Moslems innerhalb der Mitarbeiterschaft, die stets ihre Toleranz gegenüber Juden betonten. Nur bedeutet Toleranz eben nichts anderes als Duldung und entspricht somit ganz dem islamischen Konzept eines Juden oder Christenals Dhimmi,2d.h. eines Schutzbefohlenen aber größtenteils Rechtlosen.
Nicht traurig war ich folglich darüber, meine Stelle aufgeben zu müssen und einen Bürojob annehmen zu können, hoffte ich doch auf ein zumindest im Durchschnitt höheres Bildungsniveau und weniger Ressentiments.Diese Hoffnung wurde jedoch schnell zerstört als ein Kollege, während wir uns angeregt und bis dato auch sehr angenehm über seinen (muslimischen) und meinen (messianischen) Glauben unterhielten, plötzlich meinte: „Ich habe gehört, es waren keine Juden unter den Opfern des 11. Septembers.“
Implizit ist hierbei natürlich der Vorwurf, dass wer kein Opfer ist, potentieller Täter sein muss. Lassen wir einmal außer Acht, dass dasselbe auch für Millî Görüş, Fiat Lux oder die Zwölf Stämme gelten müsste – um nur mal ein paar weitere religiöse Gemeinschaften zu nennen – und wenden wir uns möglichen Antworten auf eine solche Aussage zu:Selbstverständlich kann man den Ursprung dieses Mythos damit erklären, dass der 11. September 2001 kurz vor das Datum von Rosch Haschana (18.9.2001) fiel, weswegen manch orthodox-jüdischer Angestellter im WTC aufgrund der morgendlichen Slichot3tatsächlich einige Minuten später, und damit u.U. bereits nach dem Einschlag von Flug AA 11 in den Nordturm, zur Arbeit erschienen sein mag. Und natürlich kann man auch erklären, dass die jeweilige Religionszugehörigkeit der einzelnen Opfer – aus guten Gründen – nie veröffentlicht wurde. Und freilich kann man ebenfalls erklären, dass aber anhand der Nachnamen bei rund 16% der Opfer eine jüdische Abstammung anzunehmen ist.4Und folglich kann man obendrein erklären, dass damit der prozentuale Anteil jüdischer Opfer deutlich höher ist als dies in praktisch jedem anderen Land der Erde – mit Ausnahme Israels – der Fall gewesen wäre.
Allerdings zeigt die Erfahrung: all das kann man ebenso gut auch lassen. Denn sobald ein antijüdisches Vorurteil entkräftet wurde, taucht schon das nächste auf. In diesem Fall der empörte Bericht über ein Internetvideo, das angeblich einen israelischen Jungen zeigt, der auf die Frage nach seinem größten Wunsch antwortet: „Ich will so viele Palästinenser wie möglich töten!“Es überrascht hier zunächst einmal, dass ein in Deutschland aufgewachsener, junger Mann türkischer Herkunft, der sich selbst noch nie in der Levante aufgehalten hat, plötzlich fließend Hebräisch beherrscht, sodass er den – vermeintlich – jüdischen Jungen in einem Video, von dem wir weder wissen, wann, wo noch von wem es aufgenommen wurde oder wen es zeigt, auf Anhieb versteht.
Die Faktenlage ist jedenfalls eine andere: offenkundig hat Israel kein Interesse an Kollateralschäden in Gaza, weswegen die IDF5stets Flugblätter unter der Zivilbevölkerung verteilen, um Luftangriffe anzukündigen, sodass genügend Zeit bleibt, sich in Sicherheit zu bringen.6Das Problem: auf den gesamten 46 km² der Stadt gibt es praktisch keine Bunker. Umso überraschender, wenn man bedenkt, dass gemäß Global Humanitarian Assistance Report 2013die Pro-Kopf-Hilfe (staatliche sowie durch NGOs akquirierte Spendengelder) zwischen 2002 und 2011 nirgends so hoch war wie in Gaza bzw. der Westbank.7An finanziellen Mitteln mangelt es also nicht. Jedoch täte man, aus islamistischer Sicht, mit Schutzvorkehrungen niemandem einen Gefallen, geht doch jeder im Dschihad Umkommende auf direktem Wege in die Dschanna8ein.9So hat der Zivilist seine Jenseits-Hoffnung und die Hamas ihr menschliches Schutzschild.
Nun kann man ja mit dieser Art antijüdischer Theorien umgehen, da sie relativ plump und somit vorhersehbar sind. Sehr viel schwieriger wird es jedoch im Falle des sog. sekundären Antisemitismus, der zwar nicht offen die historischen, politischen oder auch religiösen Fakten bezweifelt, aber dazu tendiert – vorsätzlich oder nicht – Täter und Opfer zu verwechseln.Ein leuchtendes Beispiel hierfür ist einer meiner Vorgesetzten, der sich mir gegenüber folgendermaßen äußerte: „Selbstverständlich war das schlimm und unverzeihlich, was mit den Juden im Dritten Reich geschehen ist,“ – eine Aussage, mittels derer jeder (deutsche) Antisemit gerne seine Hände in Unschuld wäscht – „aber es ist eben so, dass viele reiche Juden, zum Beispiel die Rothschilds, das Dritte Reich erst möglich gemacht haben, weil sie es finanziert haben.“
Selbstverständlich handelt es sich dabei um eine nur scheinbar elegante Methode, den Opfern der Schoa die Schuld an derselben in die Schuhe zu schieben. Denn natürlich ist es richtig, dass Juden das NS-Regime mitfinanzierten. Allerdings taten sie das höchst unfreiwillig! Zum Beispiel in Form der sog. „Judenbuße“, welche am 12. November 1938 zynischerweise den Opfern der Reichspogromnacht durch die Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit10auferlegt wurde. Legenden über jüdische Großfinanziers Hitlers aus dem In- und vor allem Ausland entstammen hingegen zumeist Dokumenten wie etwa dem Warburg-Bericht, der sich bereits kurz nach seiner Veröffentlichung als Fälschung erwies11und somit heute eine Art Protokolle der Weisen von Zion für Leute mit Mittlerer Reife darstellt.
Abgesehen davon ist es interessant, dass Mitte des 19. Jahrhunderts den Juden, insbesondere James de Rothschild, z.B. von Alphonse Toussenel vorgeworfen wurde, durch geschickte Börsenspekulation Kriege zu verhindern,12während ihnen heute vorgeworfen wird, Kriege zu führen oder, wie in diesem Fall, den Weltkrieg überhaupt erst ermöglicht zu haben. Das zeigt vor allem eines sehr deutlich, nämlich dass es sich beim Antisemitismus keineswegs um ein begründbares Vorurteil handelt, sondern vielmehr um eine sich stets selbsterfüllende Prophezeiung.
Von einem letzten Erlebnis, das mich erstmals so etwas wie Angst hat empfinden lassen, muss ich allerdings noch berichten. Und auch wenn es sich bei den hieran Beteiligten einmal mehr um Moslems handelte, so liegt mir absolut nichts daran, das vermeintlich unmögliche Zusammenleben von Anhängern des Islam mit Andersgläubigen oder gar den muslimischen Antisemitismus zu beschwören. Dieser Begriff ist ohnehin irreführend, da die allermeisten Moslems diesseits des Persischen Golfs selbst Semiten sind bzw. zumindest eine nordwestsemitische Sprache sprechen. Ganz konkret geht es also nicht um Antisemitismus, sondern um Ressentiments gegenüber allem, was irgendwie jüdisch erscheint. Und genau das habe ich erlebt.
Als ich vor wenigen Tagen in Stuttgart in die U-Bahn stieg, sah ich zwei junge Männer mit dunklem Teint, die sich, wie ich erst als ich näher kam feststellte, auf Arabisch unterhielten. Nun, da neben ihnen noch ein Platz frei war, setzte ich mich. Als jedoch der mir schräg gegenüber Sitzende der beiden meine Peot13bemerkte, fing er plötzlich an, alles Gesagte noch einmal auf Deutsch zu wiederholen – offensichtlich damit auch ich es verstehen konnte –, auf die israelischen Kindermörder zu schimpfen und die Überlegenheit des Islam zu preisen. Ich beschloss, mich davon nicht weiter beeindrucken zu lassen und da ich die Zeit in der Bahn gerne zum Lesen nutze und ohnehin noch einen Torakommentar vorzubereiten hatte, schlug ich meinen Tanach14auf. Als er dann aber auch noch die hebräischen Buchstaben sah, verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig und er begann mit sich steigernder Lautstärke „Allahu akbar!“ vor sich hin zu sagen und seine Körpersprache wurde zunehmend aggressiver. Dann stieg ich aus.
Diese Begebenheit ließ mich relativ ratlos zurück. Doch zusammen mit dem, was die vergangenen Wochen in Deutschland, Frankreich usw. passiert ist, ergibt sich langsam ein Gesamtbild. Eines, das mir nicht gefällt.Aber leider kann ich im Moment nichts teilen – außer meiner Ratlosigkeit. Nur bei einer Sache bin ich mir sicher: so darf es nicht weitergehen!
1http://www.youtube.com/watch?v=TbYTUUZLGus 2C. E. Bosworth. The Concept of Dhimma in Early Islam. In: B. Braude, B. Lewis (Hg.). Christians and Jews in the Ottoman Empire. The Functioning of a Plural Society. Holmes & Meier Publishing, 1982. Bd. 1, S. 41. 3Bußgebete 4http://www.jcpa.org/phas/phas-13.htm 5Israel Defense Forces 6http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.nahost-konflikt-um-gaza-streifen-israel-warnt-einwohner-im-norden.bc1795e3-8d40-471f-9f3d-0f37e05797fe.html 7http://www.a3wsaar.de/fileadmin/user_upload/flugschrift/flugschrift-hilfsbusiness-vorsicht-die-helfer-kommen-2013-12.pdf 8Paradies 9z.B. Sure 3,157.169 (vgl. 9,81f; 48,16) 10http://de.wikisource.org/wiki/Verordnung_%C3%BCber_eine_S%C3%BChneleistung_der_Juden_deutscher_Staatsangeh%C3%B6rigkeit 11http://www.h-ref.de/organisationen/nsdap/finanzierung.php 12Niall Ferguson. 2002. Die Geschichte der Rothschilds. Propheten des Geldes. Aus dem Engl. 2 Bde. DVA: München-Stuttgart, S. 37. 13Schläfenlocken14Hebräische Bibel (AT)

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