104. Doppelagenten

Sabina Kienlechner skizziert in „Sinn und Form“ zunächst die Geschichte der „Aktionsgruppe Banat“, die sich 1972 als widerständiger Dichterkreis formiert hatte, um den Hofdichtern des Ceausescu-Regimes und den Heimatkitsch-Autoren im Banat und Siebenbürgen eine Poetik der radikalen Moderne entgegenzusetzen. Als spiritus rector dieser damals noch sehr jungen Dichter agierte Richard Wagner, der wie seine Kollegen davon träumte, dass die Dichter als „sanfte Guerilleros“ agieren, im Rückgriff auf einen undogmatischen Marxismus. Drei Jahre lang konnte die „Aktionsgruppe Banat“ ihre kritische und experimentelle Poetik entwickeln, bis die Securitate 1975 daran ging, durch Einschüchterungen, Drohungen, Verhaftungen und Spaltungs­versuche die Gruppe zu zerschlagen.

Die zerstörerische Arbeit des Geheimdienstes konnte aber nur Erfolg haben, so kann Kienlechners „Sinn und Form“-Aufsatz belegen, mit Hilfe literarischer Doppelagenten, die ihre eigenen Kollegen ans Messer lieferten. Unter massiver Bespit­zelung hatten vor allem die Dichter Gerhard Ortinau und William Totok zu leiden, die von ihren falschen Freunden denunziert und in die Falle gelockt wurden. Als besonders gefährlich erschien den Securitate-Spitzeln ein Gedicht von Gerhard Ortinau, das sich vordergründig als Sprachspiel über Eigenschaften grammatischer Wortarten maskiert, hinter dem sich dann eine subtile Diagnose der rumänischen Diktatur verbirgt. Ortinaus Gedicht beginnt so:
„ein pronomen ist verhaftet worden / das numerale wird beauftragt die lücke auszufüllen / das substantiv wechselt seinen besitzer / das verb wird mit sach­kenntnis in die falle gelockt / das adverb wird aus der zeitung gestrichen …“ Solche Gedichte genügten, um den ganzen Überwachungsapparat der Securitate in Bewegung zu setzen, der schließlich eine Kampagne gegen Ortinau startete, die fast zur physischen Vernichtung des Dichters führte. Nach seiner Ausreise litt Ortinau jahrelang unter schweren Depressionen, sein Kollege Rolf Bossert, der poetisch begabteste Kopf unter den rumäniendeutschen Dissidenten, nahm sich 1986 das Leben. Sabina Kienlechner scheut sich in ihrem „Sinn und Form“-Aufsatz auch nicht, die literarischen Doppelagenten namentlich zu benennen, die sich nach ihrer Ansicht mit besonderem Übereifer der Securitate andienten. Sie verweist auf den Lyriker Werner Söllner und vor allem auf die Schriftsteller Peter Grosz und Franz Thomas Schleich, die sich offenbar in besonders denunziatorischer Weise als Berichterstatter betätigt haben. / Michael Braun, Zeitschriftenlese Dezember 2010, Poetenladen

Sinn und Form: H. 6/2010  externer Link
Postfach 210250, 10502 Berlin. 146 Seiten, 9 Euro

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BELLA triste. Nr. 28  externer Link
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