103. Breuers Lese-Jahr 2010

Auch in diesem Jahr veröffentlicht Theo Breuer einen seiner umfang-, kenntnis- und façettenreichen Überblicksessays über sein Lese-Jahr. (Poetenladen). 3 Auszüge:

1

… indem ich in der Antwort Friederike Mayröckers Gedichtbuch dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif benannte, das alle anderen Lyrikbücher des guten Jahrgangs 2009 dermaßen überragt, daß der Peter-Huchel-Preis fast schon wieder zu klein ist für dieses große, lebendige Buch. Ich beglück wünsche alle Menschen, die mehr oder weniger, erkannt und unerkannt an diesem Preis beteiligt sind, zu dieser Ent­scheidung. Nach dem Literaturnobelpreis 2009 für Herta Müller und Atemschaukel sowie dem deutschen Buchpreis 2009 für Kathrin Schmidt und Du stirbst nicht ist dies eine weitere Wahl, die mich beglückt und bei der ich mir in diesen Minuten das Gefühl gestatte, gleichsam mitgewirkt zu haben.

Weitaus wesentlicher ist allerdings der Wunsch:

den hyperbolischen raum
oder das innere des gedichts
erreichen

Silke Peters

  • Friederike Mayröcker, dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif, 356 Seiten, Hardcover mit Schutz umschlag, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009.
  • Herta Müller, Atemschaukel, Roman, 303 Seiten, Hardcover mit Schutz umschlag, Hanser, München 2009.
  • Silke Peters, Parnassia, Gedichte, 42 Seiten, Broschur, Wiecker Bote 22, Greifswald 2009.
  • Kathrin Schmidt, Du stirbst nicht, Roman, 348 Seiten, Hardcover mit Schutz­umschlag, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009.

2

Nach etlichen Wochen der eben angedeuteten, im Juni einsetzenden nahezu absoluten Leseunfähigkeit, die mich seit einigen Jahren immer wieder überfällt – da bin ich froh, am Abend eine oder zwei Seiten zu lesen, nachdem ich den ganzen Tag lang um die Bücher herumgeschlichen bin, mich ihnen versucht habe zu nähern und es nicht einmal schaffe, eins in die Hand zu nehmen und zu öffnen – lese ich seit knapp zwei Wochen wieder einigermaßen in der Art, wie ich immer gelesen habe, seit ich lesen kann, ein Buch zieht das nächste unmittelbar nach sich, und so lese ich vor wenigen Tagen mit großer Anteilnahme Ernst Wiecherts Roman Das einfache Leben, nun lese ich, während es draußen wunderbar regnet (die wenigstens Menschen, die ich kenne, mögen den Regen, ich liebe ihn, fühle mich ihm nah, gehe oft in ihn hinein, auch mitten in der Nacht, Anfang Juli blicke ich im Gewitter hinauf in den Himmel, und dort erscheint ein Feuerball, ein Blitz direkt über mir, wie ich ihn noch nie gesehn, der unmittelbare Donner reißt mir beinahe die Füße unterm Körper weg, und ich flüchte um die Hausecke), Friederike Mayröckers ich bin in der Anstalt und bin glücklich, vollkommen nackt in diesem Wörtermeer, in dem ich dann und wann Swantje Lichtenstein begegne, zu schwimmen, in die Wörter hinein zu tauchen, mal mit weit geöffneten Augen, mal mit geschlos senen, und die Wort kaskaden prickeln auf der Haut, so auf Seite 60: Wenn ich nicht verbrenne beim Schreiben eines Gedichtes, ist es kein gutes Gedicht und wird den Leser kalt lassen. Ich lasse mich hierhin und dorthin treiben, von Wellen wegtragen, die wasserklaren Wörter strömen über mich hinweg und durch mich hindurch, und es tobte in mir aber ich konnte es nicht unter drücken und mein herz wallte und mein Blut druck war in die Höhe geschnellt und meine Hand zitterte dasz ich meine Notizen nicht mehr ent ziffern konnte, und die Finger spitzen in der Butterdose und der Suppenlöffel im Honigglas, und die Walze des Kopierapparates griff nicht mehr nach dem eingelegten Papier und die letzten Mai Tage waren kalt und es war 1 kalte Sonne und 1 wütender Wind und 1 Übelkeit hatte mich befallen. Heute ist der 30. August, 8°, es regnet und stürmt, usw., und so muß es, wieder einmal, immer weiter und weiter gehen mit den Wörtern, ich greife nach Mara Genschels Tonbrand Schlaf und finde schon wieder Wörter: Arabesken · Blechgesang · Cello (Cellophan) · [Droste] · Eckzahn · Flatterzunge · Georgewitter · Herzverzerrung · Iro · Johannis beer gezanke · Kornstimme · Luftröhrenast · Murmeln · Nesseln · Osterglockentopf · Presslufthammer-Blau · Quart · Reflexe · Stirngraben · Tonbrand · Und · Vollbart · Windsplitter · Zahnbeats – usw.

  • Mara Genschel, Tonbrand Schlaf, 75 Seiten, Klappbroschur, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2008.
  • Swantje Lichtenstein, Entlang der lebendigen LinieSexophismen. Ein lyrischer Zyklus, 79 Seiten, Passagen Verlag, Wien 2010.
  • Friederike Mayröcker, ich bin in der AnstaltFusznoten zu einem ungeschriebenen Werk. 190 Seiten, Hardcover mit Schutz umschlag, Suhrkamp, Berlin 2010.


3

24 mal 17 mal 4,6 cm: Maße, die bibelähnlichen Charakter haben. Ein großzügig wirkendes, sehr schönes, in apfelsinenfarbenes Leinen (in das ein maschen draht­ähn liches Bild, in dessen Mitte vier auf einander gerichtete Pfeile zueinander finden, grün imprägniert ist) gehülltes und mit grünen Lesebändchen versehenes Buch ist Oswald Eggers Die ganze Zeit, das die einen als Lyrikband, die anderen als Roman bezeichnen. Wie so oft liegt bei polarisierenden Phänomenen die Wahrheit, die es nicht gibt, im luftleeren Raum dazwischen. Denn Die ganze Zeit ist, naturgemäß, weder das eine noch das andere. Die ganze Zeit ist ein Unikatbuch, ein Künst­lerbuch gleichsam, das sich jeder gattungsspezifischen Einordnung entzieht.
Nun ist es eine Sache, ein Buch als Objekt über den grünen Klee zu loben, eine andere, das Buch auch tatsächlich zu lesen. Viele Bücher, die ins Haus kommen, lese ich umgehend, die aktuelle Lektüre dafür auch gelegentlich hintanstellend. Das ist bei Die ganze Zeit ein wenig anders.
Natürlich packe ich das Buch rasch aus, erfreue mich sogleich an der Gestaltung, wiege es in der Hand, in der das leinengebundene Werk trotz seines Umfangs angenehm leicht liegt, und lese unverzüglich die ersten Seiten, die sogleich eine Überraschung darstellen. Das erste Wort: BEKENNTNISSE. Und tatsächlich, die spontane Vermutung trifft zu: Hier stehen neue Übertragungen der CONFESSIONES des Augustinus, dessen eine – eingebrannt wie ein Tattoo – mich lebenslang begleitet, seit ich sie von frühester Kindheit an während jeder Messe vom katholischen Dorfpfarrer in Bürvenich gesprochen hörte: Unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir, o Herr. / Inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te, Domine, unpaginiert und im Wechsel mit ringförmigen Zeichnungen des Autors über ein Dutzend Seiten das voluminöse Buch einleitend – und mit einer Seite Boethius am Ende das über 700 Seiten starke, auf vier Säulen – Zeichnung, Übertragung, Blocksatz-Gedicht in lyrischer Prosa, die von vielen Vierzeilern (in nihilum albumfinden sich 3.650 von diesen Ameisengedichten) eingerahmt werden, die am Ende von Kapiteln die Herrschaft über eine ganze Seite übernehmen – stehende Werk beschließend. Anschließend lese ich den Klappentext:

Was tue ich eigentlich die ganze Zeit, während ich denke, dass ich spreche? Soll (will und kann) ich die Dinge mit den Augen derer sehen, die sie selber nicht mehr sehen oder noch nicht? Die elfunddreißig Ichs, welche in Oswald Eggers lyrischem Roman wie augenblicklich umgehende Schelmwesen toben, verflüchtigen sich in etwas, was seit Augustinus die ganze Zeit verheißt: Aufmerksamkeit, Erwartung und Erinnerung in einem. Die Jetzt-Sätze der Erzählung springen feixend ineinander: Gnome, Habergeißen und anderes Wolkengetier erringen fabelhaftes Eigenleben und hüpfen von der Maskenbühne tolldreist ins Parterre der Ungereimtheit. Sie führen dort ungeheure, verblichene, oft schroffe Szenerien einer bald abenteuerlichen, bald wilden Jagd nach Vergeblichem auf, wobei gilt: Zeit ist Welt.

Auf den Baustein Die ganze Zeit wollte ich, wie schon auf Tag und Nacht sind zwei Jahre, im Gebäude der Büchersammlung um keinen Preis mehr verzichten.

Mein Leben
War eine Feuer-
Lilie, die
auf Heu blüht.

In einer späten Septembernacht beginne ich die Lektüre. Im Nu spüre ich die Wörter in der Brust pochen (geht das überhaupt?), fühle einen pulsie renden Druck, und ich sage nach einigen Seiten laut vor mich hin: Wahnsinn, das ist der helle Wahnsinn, und lese weiter und weiter und weiter.

  • Oswald Egger, Die ganze Zeit, 741 Seiten, Leinen, Lesebändchen, Suhrkamp, Berlin 2010.
  • Oswald Egger, nihilum albumLieder & Gedichte, 150 Seiten, Hardcover mit Schutz­umschlag, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007.
  • Oswald Egger, Tag und Nacht sind zwei JahreKalendergedichte, 36 Seiten, handfadengebundene Broschur, Verlag Ulrich Keicher, Leonberg 2007.




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